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Zwangsarbeiter unter stalinistischer Herrschaft

Der Gulag war ein umfassendes Repressionssystem der UdSSR mit Zwangsarbeitslagern, Straflagern, Gefängnissen und Verbannungsorten. In der Ausstellung "Gulag, Spuren und Zeugnisse" wird nun die Leidensgeschichte von 20 Millionen Menschen unter der stalinistischen Herrschaft erstmals in Deutschland gezeigt.

Volkhard Knigge im Gespräch mit Beatrix Novy | 29.04.2012
    Beatrix Novy: Der Topos vom Jahrhundert der Lager meint das ganze 20. Jahrhundert und viele Länder, in denen Menschen hinter Stacheldraht gebracht wurden, aber für die größten Schrecken stehen immer noch Deutschland und die Sowjetunion, dann KZs und der Gulag, und um den geht es jetzt. Der Ostblock musste erst fallen, bevor die "Gruppe Memorial" in Russland entstehen und beginnen konnte, Erinnerungen an die 20 Millionen zu sichern, die zwischen den 20er- und 50er-Jahren in die riesigen Lager gebracht wurden - die meisten aus nichtigen Gründen beziehungsweise Opfer eines Säuberungswahns nach innen.

    Heute wurde in Schloss Neuhardenberg bei Berlin eine große Ausstellung eröffnet: "Gulag, Spuren und Zeugnisse" - die Zweite zum Thema überhaupt, die allererste in Deutschland. Zusammen mit Irina Scherbakowa ist Volkhard Knigge wissenschaftlicher Leiter dieser Ausstellung. Mit ihm habe ich gesprochen und ihn habe ich gefragt, warum erst jetzt eine solche Ausstellung, über 20 Jahre nach der Wende und fast 60 Jahre nach Stalins Tod?

    Volkhard Knigge: Das ist erstaunlich und das ist für unsere russischen Freunde in der Menschenrechtsorganisation Memorial auch bedrückend. Innerrussisch kann man es vielleicht so erklären: Der Stalinismus hat über viele Jahrzehnte gedauert und nachgewirkt, der Gulag hat die ganze Gesellschaft zerfressen, könnte man beinahe sagen, und für den Westen war es sehr wichtig, die Schützengraben des Kalten Krieges zu verlassen. Wer über den Gulag spricht, wird zunächst auch sehr deutlich sagen müssen, dass er die nationalsozialistischen Verbrechen damit nicht relativieren will, wie das in den 50er-, 60er-, 70er-Jahren ja häufig der Fall war.

    Novy: Wenn man bedenkt, dass die Opposition in Russland schon lange vor der Revolution nach Sibirien kam, sind die Jahreszahlen, mit denen Sie Ihre Ausstellung eingrenzen, sehr exakt. Was kennzeichnen die Zahlen 1929 bis 1956?

    Knigge: Tatsächlich die Geburt des Gulags im eigentlichen Sinn. Es entsteht die entsprechende Gesetzgebung, die Verschärfung der Gesetzgebung, die Lager, die nach dem Bürgerkrieg in Russland, dann in der Sowjetunion bestanden, werden in den 20er-Jahren sehr stark zurückgefahren. Der Gulag entsteht also 1929/30 und er endet 1953-1956, einmal durch Stalins Tod, durch die1953 beginnenden Amnestierungen, durch die Auflösung der "Behörde 1956". Die Lager bestehen aber durchaus noch weiter, sie leeren sich nicht sofort und der Gulag nach dem Gulag existiert dann bis in die 80er-Jahre, eigentlich bis zum Ende der Sowjetunion. Die politische Verfolgung hat ja nicht aufgehört und auch nicht der drakonische Umgang mit nur leicht belasteten Straftätern.

    Novy: So sind also die Zahlen auch andere, als man denken sollte. Der stalinsche Terror, als der große Terror in den 30er-Jahren, hat gar nicht die meisten dahin gebracht.

    Knigge: Im großen Terror werden die davon Betroffenen ja in der Regel erschossen. 20 Millionen Menschen durchleiden den Gulag. Die höchste Belegung der Lager ist um 1950 mit 2,5 Millionen Menschen. Von den 20 Millionen kommen etwa zehn Prozent im Gulag um. Ein Sechstel des Landes bestand aus Lagern und politische Häftlinge sind in der Größenordnung zwischen 15 Prozent und etwa einem Drittel der Häftlingszahl in diesen Lagern. Der Rest sind sozial Auffällige und dann von den drakonischen disziplinierenden Gesetzgebungen betroffenen einfache Menschen, um 1950 etwa hungernde Kriegswitwen, die einfach sogenanntes Gemeinschaftseigentum gestohlen haben - das konnte ein Brot sein, ein paar Ähren auf dem Acker -, eine teuflische Form der Strafe, die in überhaupt gar keinem Verhältnis zur sogenannten Tat stand.

    Novy: Diesen ganzen Wahnsinn der Nichtigkeiten, der Denunziationen, der Ungerechtigkeit haben doch viele beschrieben. Und trotzdem gibt es da keine einhellige Meinung darüber in der russischen Öffentlichkeit?

    Knigge: Nun, der Gulag hat ja die eigenen betroffen. Der Stalinismus hat die eigenen Menschen verschlungen. Es gibt keine Familie, die vom Gulag nicht betroffen ist.

    Novy: Eben!

    Knigge: Wer heute Täter war, konnte morgen Opfer sein, wer heute Opfer war, konnte morgen Täter sein, das alles gehört zu diesem System. Man muss sich die Lager eben nicht entsprechend der nationalsozialistischen Lager vorstellen, die sich ja gegen sogenannte rassische, politische und andere Feinde richten. Der Gulag richtet sich in der Masse dann doch gegen die breite Bevölkerung, er frisst sich in die Bevölkerung, in das Land hinein, Gulag und Gesellschaft sind verzahnt, man muss sich den Gulag wie eine furchtbare Wucherung in die Gesellschaft, in das Leben dieser Menschen hinein vorstellen und das macht ihn so besonders schwer, auch zu erinnern.

    Novy: Womit arbeitet denn die Ausstellung, um das alles zu zeigen?

    Knigge: Zum ersten Mal werden sehr, sehr, zahlreiche Objekte von Gulag-Überlebenden selber gezeigt, die geborgen worden sind, die man mitnehmen konnte nach der Entlassung, und unendlich viele Objekte, die auf dem Gelände der verlassenen Lager in den End-80er-Jahren, in den Früh-90er-Jahren gesammelt worden sind, gewissermaßen wirklich aus dem Staub der Lager geborgen worden sind. Sie sind bei Memorial in Moskau aufbewahrt, zum Teil unter wirklich bedrückenden Bedingungen, weil da fehlt es an Geld, an Raum, an Ausstattung, und wir sind froh, dass wir diese Objekte mithilfe unserer russischen Kollegen, an denen so viele Geschichten, so viel Leid, so viel auch menschengemachter Menschenfeindlichkeit hängt, dass wir die mit den zugehörigen Geschichten jetzt zum ersten Mal in Deutschland zeigen können.

    Novy: Das war Volkhard Knigge, wissenschaftlicher Leiter der Ausstellung "Gulag, Spuren und Zeugnisse", jetzt zu sehen in Schloss Neuhardenberg. Später im Jahr geht die Ausstellung nach Weimar und von da aus sicher zu weiteren Stationen.

    Äußerungen unserer Gesprächspartner geben deren eigene Auffassungen wieder. Deutschlandradio macht sich Äußerungen seiner Gesprächspartner in Interviews und Diskussionen nicht zu eigen.