Freitag, 19. April 2024

Archiv

Zwangsarbeiterin, Zeitzeugin
NS-Geschichte zwischen Erinnerung und Aktenlage

Lilija Derjabina wurde 1943 als Zwangsarbeiterin nach Göttingen gebracht. Ihre Erinnerungen hat sie aufgeschrieben – doch einige ihrer Schilderungen sind aus wissenschaftlicher Sicht nicht plausibel. Wie geht die Forschung damit um? Eine Spurensuche in Göttingen.

Von Andrea Rehmsmeier | 14.08.2022
Lilija Derjabina hält das Passfoto ihrer Mutter Antonina in der Hand. Aufgenommen wurde es nach der Rückkehr aus der Göttinger Zwangsarbeiterzeit in die Sowjetunion.
Lilija Derjabina mit dem Foto ihrer Mutter Antonina, aufgenommen einige Monate nach ihrer Rückkehr in die Sowjetunion (Deutschlandradio / Andrea Rehmsmeier)
Der Schützenplatz in Göttingen: zentral gelegen am Bahnhof, unweit des bekannten Veranstaltungszentrums "Lokhalle". In den Jahren 1942 bis 1945 gab es hier ein riesiges Zwangsarbeiterlager. Günter Siedbürger, Historiker in Göttingen:
"Um die 20 Baracken und etwa 1.000 Personen. Und das ausschließlich Leute aus der Sowjetunion, Ostarbeiter und -arbeiterinnen, wie sie offiziell hießen, getrennt in ein Frauen- und ein Männerlager. Die waren mit Stacheldraht umzäunt, zwei- oder dreireihig, und von Wachleuten bewacht, die Wachhunde dabei hatten, die da immer langpatrouilliert sind."
Bislang unbekannte Verbrechen?
Heute ist der Schützenplatz ein Parkplatz. Nichts erinnert an die Internierten. Die Russin Lilija Derjabina aber hat die Bilder von damals bis heute vor ihrem inneren Auge:
"Ende März 1945 wurden einige hundert Menschen aus den Baracken in das umgerüstete Badehaus getrieben. Giftgas wurde hineingeleitet. Wir bekamen das am nächsten Tag mit. Riesige Lkw fuhren an das Badehaus heran, die Leichen wurden aus dem großen Fenster auf einem Fließband heraustransportiert. Die das sahen, liefen durch das Barackenlager und berichteten, was vor sich geht."
Der Historiker Günter Siedbürger dazu: "Wir können uns auch als Historiker nicht sicher sein, dass wir nicht doch durch Zeitzeugenaussagen oder so wieder auf ein Verbrechen stoßen, von dem bis dahin gar nichts bekannt war."
"Weiße Lilija" von Lilija Vasilievna Derjabina: 88 Seiten Autobiografie in russischer Sprache, erschienen im Jahr 2019 in Perm. Dort, im Vorgebirge des Ural, habe ich die Zeitzeugin getroffen. Ihr Buch habe ich mitgebracht – nach Göttingen, wo bis dahin niemand Lilijas Geschichte kannte.
Der Historiker Günther Siedbürger auf der Eisenbahnbrücke am Güterbahnhof Göttingen
Historiker Günther Siedbürger will Hinweise auf bislang unbekannte Verbrechen nicht ausschließen (Deutschlandradio / Andrea Rehmsmeier)
Günther Siedbürger steht auf der Eisenbahnbrücke des Güterbahnhofs in Göttingen, das Büchlein hält er in seiner Hand. Sein Blick schweift über die weitläufige Gleisanlage und das angrenzende Stadtgebiet:
"Diese ganze Gegend – auch links davon, wo die Liebrechtstraße dann hier auf diese Parallelstraße, die es damals noch nicht gegeben hat, zu den Gleisen, stößt – waren zum Teil vereinzelt Baracken, zum Teil eben auch größere Lager wie das am Schützenplatz. Und auch am Leineufer nochmal zwei Lager."
In ihrer Autobiografie berichtet Derjabina von mörderischem Sadismus, von dem Himmelfahrtskommando einer Bombenentschärfung, einem Tod bringenden Starkstromzaun und einem Massenmord im Badehaus. Erinnerungstrugbilder eines traumatisierten NS-Opfers? Oder Hinweis auf bislang unbekannte Verbrechen? Der Göttinger Historiker will es nicht ausschließen:
"Es ist eben dann unter Umständen doch möglich, dass alle Quellen vernichtet sind, niemand sich öffentlich dazu äußern mochte und dass es eben doch stattgefunden hat und wir es einfach bis dahin nicht wussten."
Beschreibungen von Verhören und Folter
Lilija Derjabina, die rüstige Buchautorin, wohnt heute in einer kleinen Zweizimmerwohnung am Stadtrand von Perm. Sie ist sieben Jahre alt, als sie im September 1943, zusammen mit ihrer Mutter Antonína und ihrem kleinen Bruder Edik, in einem Viehwaggon nach Göttingen deportiert wird:
"Wir arbeiteten zusammen mit den Deutschen, darum gab es im Lager ein prachtvolles Badehaus – so eine Banja gab es nicht mal bei uns in Russland! Einmal in der Woche wurden wir dort hineingetrieben. Sie haben irgendein Gas benutzt, um uns zu desinfizieren, damit sich die Deutschen bei uns nicht anstecken. Einige haben das Gas nicht ausgehalten und sind daran gestorben. Später haben sie das Badehaus als Mordstätte für die Bewohner von mehreren Baracken benutzt. Das war im April 1945 – oder Ende März."
Passfoto der Mutter Lilija Derjabinas, Antonia, aus der Zeit nach ihrer Rückkehr aus der Göttinger Zwangsarbeit in die Sowjetunion.
Lilija Derjabinas Mutter nach ihrer Rückkehr aus der Zwangsarbeit in die Sowjetunion (Deutschlandradio / Andrea Remsmeier)
Leben und Sterben im Zwangsarbeiterlager: Derjabina beschreibt das mit den Augen des Kindes, das sie damals war. Das Schicksal ihrer eigenen Familie ist laut der Autobiographie besonders dramatisch: Die Mutter, nachdem sie Lagerinsassen Fluchthilfe geleistet hat, wird von der Gestapo verhört. Um sie zum Reden zu bringen, wird die kleine Lilija schwer gefoltert: mit Metallhaken geschlagen und mit einem glühenden Eisen verbrannt. Nur der mutige Einsatz von Ordensschwestern und Göttinger Bürgern rettet Mutter und Tochter das Leben. An "Frau Anna" erinnert sich die Autorin mit besonderer Dankbarkeit: Diese nimmt das verletzte Mädchen in ihrem Haus auf, ein Arzt aus der Verwandtschaft näht ihr dort in aller Heimlichkeit die Wunden. Doch dann muss Lilija ins Lager zurück. An ihrem achten Geburtstag wird sie zum Arbeitseinsatz im damaligen Ausbesserungswerk der Reichsbahn eingeteilt:
"Meine Wunden waren nach der Folter noch nicht verheilt. Dennoch wurde ich zum Reinigen von Dampfkesseln eingeteilt. Die Lokomotiven liefen damals ja mit Kohle, und die Kessel hatten vorn eine Luke zum Befeuern. Die kleinen Kinder mussten dort hineinklettern, um die Kessel von innen vom Ruß zu befreien."
Vermischung von Erinnerung und späterem Wissen
Ernst Böhme hat bis Ende 2019 das Stadtarchiv Göttingen geleitet. Ein routinierter Schwung mit der Kurbel, und das Rollregal gibt den Zugang zur Stadtgeschichte frei. Zwischen 1939 und 1945 waren in der Kleinstadt über 11.000 Zwangsarbeiter im Einsatz, mehr als 5000 davon waren so genannte "Ostarbeiter":
"Da kann ich mal so eine Akte rausnehmen."
Böhme hat die Göttinger Passagen in Derjabinas Autobiografie aufmerksam studiert. Eine Zwangsarbeiterin namens Antonína Derjabina mit ihren Kindern Lilija und Edik war ihm bis dahin nicht bekannt – in den Archivbeständen tauchen sie jedenfalls nicht auf. Dennoch hält Böhme die Zeitzeugin grundsätzlich für glaubwürdig: Längst nicht alle Akten aus Kriegszeiten sind erhalten, weite Passagen decken sich mit der dokumentierten Lagergeschichte und die meisten beschriebenen Örtlichkeiten lassen sich lokalisieren. Einzelne Episoden jedoch machen ihn stutzig – so auch die angebliche Vergasung von Lagerinsassen in einem Badehaus. Ein solches Ereignis sei weder aktenkundig, noch sei es je von anderen Zeitzeugen erwähnt worden.
"Da kann man nach historisch methodischer Plausibilität sagen: Die Wahrscheinlichkeit, dass es das gegeben hat, aufgrund dieser einzigen Aussage eines Kindes, ist nicht hoch. Wir können es nicht ausschließen, aber wir müssen aufgrund der Quellenlage annehmen, dass es eher eine Sache ist, die bei Frau Derjabina aus einer anderen Quelle in ihr Gedächtnis gekommen ist."
Es ist nicht die einzige Passage, von der Böhme vermutet, dass sich hier später angeeignetes Wissen mit den Erinnerungen vermischt hat. Auch Tod bringende Starkstromzäune, wie Derjabina sie beschreibt, habe es in Göttingens Lagern nie gegeben.
"Sie hat sich informiert, und umgetan. Sie ist traumatisiert. Das ist lange her. Sie hat entsetzlich viel erlebt und viel Entsetzliches erlebt. Es sind eben einige Punkte drin, die auf Göttingen nicht zutreffen. Es sind aber viel mehr Punkte, wo wir sagen: Jawohl, das spricht dafür, dass sie in Göttingen gewesen ist als Kind."
Zwangsarbeiter aus Osteuropa – kollektiv vergessen
Doch auch die Akten geben nicht über alles Auskunft. Mehrere tausend Menschen sind in der Göttinger Zwangsarbeit gestorben, vermutet Böhme. Wie viele Tausend, das kann auch er nicht sagen.
Dass die deutschen Städte und Gemeinden das düstere Kapitel Zwangsarbeit überhaupt aufgearbeitet haben, geschah infolge einer Wiedergutmachungsregelung, die Deutschland im Jahr 2.000 eingegangen ist – nach Jahrzehnten der Blockadehaltung und auf massiven Druck von Seiten der USA. Auch Stadt und Landkreis Göttingen gaben damals Forschungsprojekte in Auftrag, um das Ausmaß des NS-Verbrechens zu erfassen und noch lebende Anspruchsberechtige ausfindig zu machen. Unzählige Akten aus den Archiven von Wohnungsamt, Ordnungsamt, Polizei und Wirtschaftsunternehmen mussten damals durchforstet werden, erinnert sich Böhme:
"Göttingen ist nicht besser und nicht schlechter als die anderen Städte auch. Das Irritierende an diesem Phänomen, dass die Zwangsarbeit kollektiv vergessen wurde, war, dass die Zwangsarbeiter ja – anders als die Juden, die deportiert worden waren, ja weg waren – die Zwangsarbeiter dagegen waren in den Städten, auf den Dörfern präsent. Die wohnten zum Teil bei den Bauern. Sie wohnten in Lagern, sind von den Lagern zu ihren Arbeitsstätten geführt worden und wieder zurück. Man kannte die, man sah die, man wusste, dass sie da waren – und sobald der Krieg vorbei war, hat man sie vergessen, weil sie auch keine Lobby hatten, anders als zum Glück die Juden."
Vor dem Holocaust-Denkmal in Berlin drängeln sich die Reisegruppen: Imposante Betonstelen zum Gedenken an die ermordeten Juden Europas. Auf dem Vorplatz des Brandenburger Tors stehen die Wegweiser zu weiteren Denkmälern – für die im Nationalsozialismus verfolgten Homosexuellen, für die ermordeten Sinti und Roma, für die nationalsozialistischen Euthanasie-Morde. Eines für die Männer, Frauen und Kinder aus Polen und der damaligen Sowjetunion sucht man vergebens. Dabei schätzen Experten die Zahl der Menschen, die hier aufgrund der nationalsozialistischen Wahnidee vom "Lebensraum im Osten" und der rassistischen Ideologie vom "slawischen Untermenschen" dem Tode ausgesetzt oder ermordet wurden, auf nicht weniger als fünf Millionen: Opfer von strategisch geplanten Hungersnöten und Verbrannte-Erde-Taktik, verhungerte Kriegsgefangene, ums Leben gekommene Zwangsarbeiter.
In Berlin setzt sich die "Initiative Gedenkort für die Opfer der NS-Lebensraumpolitik" dafür ein, den NS-Opfern aus Mittel- und Osteuropa einen Platz in Deutschlands Gedenkkultur zu verschaffen. Gegründet wurde diese im Jahr 2013 von dem langjährigen Leiter des deutsch-russischen Museums in Berlin-Karlshorst, dem Historiker und Slawisten Peter Jahn. Als er Anfang der 60er Jahre sein Studium an der Freien Universität Berlin begann, da hatten die meisten Deutschen die Erinnerung an die ausgezehrten Verschleppten noch vor Augen - ein öffentliches Thema aber war das damals nicht:
"Es war eigentlich wie vom Erdboden verschluckt bei uns. Es gab kein Verbot, darüber zu reden. Aber wenn es um die Russen ging, dann waren wir die Opfer. Das war eigentlich so die westdeutsche Rezeption davon."
1963, nach dem Gerichtsprozess gegen Adolf Eichmann, macht Hannah Arendts These von der "Banalität des Bösen" den Mord an den europäischen Juden zur Initialzündung für die Holocaust-Forschung. Zunächst wird diese vor allem durch die Strafprozesse gegen NS-Täter getragen, später bekommt das Thema durch US-amerikanische Filme wie "Holocaust" oder "Schindlers Liste" einen Popularitätsschub. In den 90er Jahren publiziert die von Steven Spielberg initiierte "Shoah-Foundation" ein Videoarchiv mit nahezu 52.000 Interviews von Holocaust-Überlebenden. Seitdem gilt das "Sprechenlassen" von Zeitzeugen - im Fachjargon: "Oral History" – als anerkannte Methode.
Ein Forschungsfeld entsteht: Zwangsarbeit
Peter Jahns Forschungsthema jedoch liegt abgeschottet hinter dem Eisernen Vorhang. Unterstützung bekommt er zunächst nur von den Geschichtswerkstätten: Interessierte Bürger zumeist, die über Soldatenfriedhöfe recherchieren und die Vergangenheit lokaler Unternehmen hinterfragen.
"Da waren dann so die klassischen Verteilungen damals: Evangelische Kirche, DGB, DKP – das hört man heute nicht mehr gern, waren sie aber auch mit dabei - und dann diese so die frei floatende Linke – da bin ich eher zu finden. Dieses Bündnis war aber gar nicht so ineffizient." "Aber die Universitäten? Wo waren die zu finden in dem Ganzen?" "Gar nicht. Im Elfenbeinturm."
Ein erschöpfte russische Zwangsarbeiterin ruht sich im April 1945 in der Sammelstelle für Zwangsverschleppte in Würzburg auf Gepäckstücken aus. Sie war von Einheiten der 7. amerikanischen Armee befreit worden und wartet nun auf ihre Repatriierung.
NS-Regime: Sowjetische Kriegsgefangene als Zwangsarbeiter
Mit dem Scheitern des Blitzkriegs gegen die Sowjetunion und der Kriegswende 1941/42 stieg der Arbeitskräftebedarf in der deutschen Rüstungsindustrie. Sowjetische Kriegsgefangene wurden zur Zwangsarbeit herangezogen und dabei brutal und menschenverachtend behandelt.
Aufklärungsdruck, wie Deutschland ihn aus Israel und den USA spürte, hat es von Seiten der Sowjetunion nie gegeben: Dort war die bloße Tatsache, dass Millionen Soldaten und Zivilisten in deutsche Gefangenschaft geraten waren, mit einem patriotischen Tabu belegt. Auch das Ende des Kalten Krieges änderte daran nur wenig. Der politische Druck, der nötig war, um Deutschland zur finanziellen Wiedergutmachung zu drängen, kam aus New York – von der "Jewish Claims Conference", die ursprünglich vor allem die Entschädigungsansprüche von jüdischen Opfern vertrat.
"Und da ist dann aber auch glücklicherweise gekommen, das man sagte: 'Moment, wir haben aber nicht nur jüdische Opfer.' Also: eine riesige Zahl von polnischen, sowjetischen sowieso. Aber dann auch, was dazu kommt: Franzosen, Italiener und so weiter. Daraufhin musste man ran. Ich weiß noch, wie sich da die Industrie verlegen drumrum wand: 'Eine Million weniger reicht doch auch'. Was immer da rauskam, aber es kam was raus – für diese Entschädigung der Zwangsarbeiter."
Die Entschädigungsdebatte war auch für die Geschichtswissenschaft eine Initialzündung: Sie entdeckte in der Zwangsarbeit ein kaum bearbeitetes neues Forschungsfeld. Heute gibt es überall in Deutschland prominente Informations- und Gedenkorte, zahlreiche Studien von Universitäten und renommierten Instituten sind publiziert. Und immer öfter ist zu hören, das Thema Zwangsarbeit in Deutschland sei "ausgeforscht".
"Ihr Leiden verwehrt Vergessen" – so lautet die Inschrift auf dem Gedenkstein, der auf dem Gelände der Georg-August-Universität Göttingen aufgestellt ist. Er erinnert an die mindestens 120 Frauen und Männer, die in den Universitätskliniken unter menschenunwürdigen Bedingungen Zwangsarbeit leisten mussten. Doch so gründlich die Georg-August-Universität die Verwicklung ihrer eigenen Institute in NS-Verbrechen aufgearbeitet hat: Als ich beim Seminar für Mittlere und Neuere Geschichte nach historischen Forschungsarbeiten über Zwangsarbeit in Göttingen frage, werde ich nur an Stadt und Landkreis weiterverwiesen.
Gedenkstein vor der "Lokhalle" in Göttingen mit der Inschrift: "Zum Gedenken an die von den Nationalsozialisten aus ihrer Heimat verschleppten Menschen aus ganz Europa, die von 1935 - 1945 in Göttingen Zwangsarbeit leisten mussten. Stadt Göttingen"
Am Ort des ehemaligen "Reichsbahnwerks": Gedenkstein für die Zwangsarbeiter in Göttingen (Deutschlandradio / Andrea Rehmsmeier)
Wenig Belege für Zwangsarbeit im "Reichsbahnwerk"
Die "Lokhalle", günstig gelegen am Bahnhof, ist Göttingens bekanntestes Veranstaltungszentrum: Sitz eines Multiplex-Kinos, Austragungsort für Sportturniere und Fernsehshows. Im "Dritten Reich" war der imposante Industriebau eine Reparaturhalle für die Züge der Reichsbahn. Auf dem Vorplatz hat die Stadt einen Gedenkstein aufgestellt – "für die von den Nationalsozialisten verschleppten Menschen aus ganz Europa". Allein im "Reichsbahnausbesserungswerk" könnten um die tausend so genannte "Ostarbeiter" im Einsatz gewesen sein, schätzt der Historiker Günther Siedbürger:
"Es ging ja darum, diese Dampfloks komplett auseinanderzubauen, zu reinigen und zu reparieren. In der Kesselwerkstatt zum Beispiel wurden diese Kessel zum Teil neu benietet, mit einem ohrenbetäubenden Lärm drin. Die Arbeitsbedingungen wurden auch für die Deutschen, die im Werk waren, noch einmal deutlich verschärft in den Kriegszeiten – und für die Zwangsarbeiterinnen und Zwangsarbeiter auch nochmal verschärft. Vor allen Dingen, weil die Ernährungssituation für die ganz schlecht gewesen ist. Die waren entkräftet, und mussten trotzdem die schwere körperliche Arbeit leisten, so dass es in dieser Gruppe nochmal zu mehr Arbeitsunfällen gekommen sein dürfte."
Siedbürger ist in Göttingen ein bekannter Zwangsarbeit-Experte. Meistens ist er für die Geschichtswerkstatt im Einsatz, doch auch an der Georg-August-Universität führt er ausstellungsdidaktische Seminare durch. Für die "Stiftung niedersächsische Gedenkstätten" hat er Überlebende in ganz Europa interviewt, im Auftrag des Landkreises Entschädigungsberechtigte ermittelt.
Die Schwarzweiß-Fotos, die er mitgebracht hat, zeigen das damalige Reichsbahnwerk von innen: Winzige Gestalten von Arbeitern neben imposanten Maschinen. Hält der Historiker es für möglich, dass die Reichsbahn damals Kinder zur Zwangsarbeit einsetzte – so wie es Derjabina beschreibt? Dass diese in die verrußten Kessel der Dampflokomotiven einsteigen mussten, um sie von innen zu reinigen?
"Belege gibt es dafür nicht. Aber das ist schon sehr gut vorstellbar, weil diese Arbeit in den Kesseln – die haben eben kleine Öffnungen. Früher war das auch oft eine Arbeit für die Lehrlinge. Insofern kann ich mir schon sehr gut vorstellen, dass das tatsächlich so gewesen ist. Belege gibt es für diese ganze Arbeit im Ausbesserungswerk im Übrigen sowieso sehr wenig, weil das Werk ist 1976 geschlossen worden, so dass man da immer auf andere Quellen zurückgreifen muss. Und auf Gespräche mit Zeitzeugen."
Manche Passagen des Buches sind schwer zu beurteilen
Kinderzwangsarbeit im Reichsbahnausbesserungswerk: plausibel, aber nach derzeitiger Aktenlage nicht belegbar. Solche Passagen fallen Siedbürger bei der Lektüre von Lilija Derjabinas Buch immer wieder auf. Sogar in dem Kapitel über die Bombardierung Göttingens am 1. Januar 1945 hat er viel Unbekanntes gelesen – dabei gilt diese eigentlich als gut dokumentiert.
"Plötzlich heulte eine Sirene los, die vor dem Herannahen eines Flugzeugs warnte. Die Leute rannten zum Ausgang der Baracken. In diesem Moment gingen die Bomben über dem Lagergelände nieder. Drei Baracken wurden durch direkten Beschuss zerstört. Einige Bomben fielen auf die Erde, aber sie explodierten nicht. Etwa hundert Menschen kamen um oder wurden verwundet, darunter auch drei deutsche Soldaten."
Die alliierten Flieger wollten den kriegswichtigen Verschiebebahnhof treffen, doch viele Bomben landeten im Barackenlager am Schützenplatz, bestätigt Siedbürger. Belegt ist die Zahl von 39 Zwangsarbeitern, die dabei ums Leben kamen.
Die Zeitzeugin Lilija Derjabina, die während der NS-Zeit als Zwangsarbeiterin in Göttingen war, in ihrer Wohnung.
Lilija Derjabinas Erinnerungen an das Zwangsarbeiterlager: Vieles ist plausibel, aber nicht belegbar (Deutschlandradio / Andrea Rehmsmeier)
"Die Gefangenen, die Erwachsenen und die Kinder, mussten die Leichen und Verwundeten wegbringen und die Verschütteten ausgraben. Das war eine grauenvolle Arbeit! Überall lagen die Körperteile der Lagerinsassen und der Deutschen herum, die von den Bomben zerrissen worden waren. Überall war das Stöhnen der Verwundeten zu hören. Die deutschen Soldaten wurden abtransportiert, aber die Körper der Gefangenen wurden in ausgehobenen Gräben direkt auf dem Lagergelände vergraben." (aus dem Buch von Lilija Derjabina)
Siedbürger: "Diese Passage, die habe ich mit Verwunderung ein bisschen gelesen. Es gibt auf dem Friedhof ein Gräberfeld, in dem die Toten dieses Bombenangriffs bestattet sind, wobei das nicht besonders gut gekennzeichnet ist. Es gibt da so einen Gedenkstein mit einer kyrillischen Inschrift, von dem man auch nicht weiß oder zumindest dort nicht erfährt, wer den aufgestellt hat und wann. Aber dass die dort verscharrt worden seien und gar nicht irgendwie bestattet wurden, das halte ich für unwahrscheinlich. Und dann hätte man ja eigentlich auch auf Skelette stoßen müssen. Das ist auch nicht der Fall gewesen."
"Spätabends versammelten sich alle auf dem Platz. Der Lagerleiter teilte mit: ‚Das Lager wurde von amerikanischen Flugzeugen bombardiert, das ist aber auf Geheiß von Stalin geschehen, der alle Gefangenen aus der Sowjetunion für Verräter hält. Bei ihrer Rückkehr ins Heimatland sollen diese erschossen oder nach Sibirien verbannt werden. Darum erlaubt Deutschland allen Gefangenen, die gut arbeiten, den dauerhaften Aufenthalt. Also arbeitet eifrig weiter im Namen des Großen Deutschland'." (aus dem Buch von Lilija Derjabina)
Siedbürger: "Ja, das ist eine bittere Passage, finde ich. Weil die so zynisch ist und gleichzeitig natürlich auch ein Korn Wahrheit enthält. Weil ja tatsächlich Stalin die Gefangenen oder Zwangsarbeiter für Verräter gehalten hat und viele in der Tat ja auch nach ihrer Rückkehr erst einmal zur weiteren Zwangsarbeit nach Sibirien geschickt wurden. Gleichzeitig diese zynische Verdrehung: Das angeblich großmütige Deutschland erlaubt den Gefangenen hier noch weiter zu bleiben, wenn sie gut arbeiten ... da bleibt einem ja eigentlich die Sprache weg."
"Morgens, als alle sich zum Appell versammelt hatten, wurde bekannt gegeben, dass sich auf dem Lagergelände noch Bomben befänden, die nicht explodiert waren, und die jetzt entschärft werden müssten. Allen Gefangenen wurde befohlen, ihre Sachen aus den Baracken mitzunehmen, dann wurden sie im Exerzierschritt in eine riesige, leere Werkshalle getrieben. Die Deutschen wählten einige Männer aus der Kolonne aus und führten sie davon. Nach drei Stunden, als die Leute vor Enge und Stickigkeit schon zusammenbrachen, öffneten sich die Türen. Alle drängten aus der Halle und stellten sich zur Kolonne auf. Nach den Stunden ohne Bewegung zogen die Gefangenen fast die Beine nach. Die Soldaten trieben sie unter Schlägen mit Gewehrkolben voran, und die Hunde begradigten die Kolonne mit ihrem Knurren. Auf dem Lagergelände gab es einige neue, tiefe Krater, auf dem Boden lagen tote Körper." (aus dem Buch von Lilija Derjabina)
Siedbürger: "Ja, das ist auch eine interessante Passage, finde ich. Davon habe ich bislang nichts gehört. Zumindest in den Standesamtsunterlagen, in denen ja Sterbefälle dokumentiert werden müssen – also sie schreibt ja im Folgenden, dass dabei die, die ausgesucht wurden, ums Leben gekommen sind – tauchen solche Fälle nicht auf. Aber ich kann das schlecht einschätzen, ob das wirklich so passiert ist, oder ob sich das eher so aus ihren Ängsten vielleicht in ihre Erinnerung geprägt hat. Das traue ich mir nicht zu, zu beurteilen."
Mündliche Überlieferung galt als unzuverlässig
In wechselnder Bildfolge zeigt der Computerbildschirm die Porträts von betagten Zeitzeugen, daneben die Schwarzweiß-Fotos aus ihren jungen Jahren mit Ostarbeiter-Abzeichen oder umgehängter Gefangenennummer. Das Webportal zwangsarbeit-archiv.de, das die "Stiftung Erinnerung, Verantwortung, Zukunft" zusammen mit der Freien Universität Berlin betreibt, ist eine von Deutschlands größten Online-Sammlungen mit Zeitzeugenberichten: 590 Interviews aus 26 Ländern. Cord Pagenstecher vom "Center für Digitale Systeme", kurz CeDiS:
"Meinetwegen interessiere ich mich jetzt speziell für die 138 russischen Interviews und suche jetzt hier einfach mal nach Alexanderplatz."
Pagenstechers Team hat die Online-Plattform für das Archiv entwickelt. Göttingen kommt in den russischsprachigen Interviews nicht vor, aber digital aufbereitet andere Fallbeispiele, die die Forschung noch einmal voranbringen könnten:
"Jahrzehnte hat die historische Forschung in der Bundesrepublik die Zwangsarbeit völlig ignoriert, oder wenige Beispiele haben sie auch verharmlost und sind da im Grunde der recht ideologischen Rechtfertigung der deutschen Wirtschaft gefolgt."
War die Furcht vor den finanziellen Forderungen von Millionen Entschädigungsberechtigten der Grund dafür, dass die offizielle Geschichtswissenschaft die Zwangsarbeit so lange ignoriert hat? Pagenstecher, der schon in den 90er Jahren Zeitzeugenerinnerungen für die Berliner Geschichtswerkstatt gesammelt hat, glaubt: Auch die Quellengattung des Zeitzeugenberichts ist in der akademischen Geschichtswissenschaft lange umstritten gewesen. "Oral History" galt vielen Historikern als zu subjektiv:
"Im angelsächsischen Raum ist das schon lange ein bisschen anders. Wir haben da noch Nachholbedarf."
Erinnerungen oft erstaunlich präzise
Auch Akten sind oft alles andere als objektiv, sagt Pagenstecher – insbesondere dann, wenn es um eine verbrecherische Staatspraxis geht. Kompromittierendes Material wurde vor Kriegsende massenweise vernichtet, und die erhaltenen Dokumente geben einseitig die Sicht der Täter wieder. Das macht den Zeitzeugen zu einem wichtigen Korrektiv. Doch wie verlässlich ist der Erinnerungsbericht eines betagten Menschen – Jahrzehnte nach den Ereignissen? Pagenstecher:
"Man muss sich ja vorstellen: Die Menschen waren damals jung – im Durchschnitt 16 – kommen das erste Mal in ein fremdes Land, wo sie die Sprache nicht können, wo sie niemanden fragen dürfen, wo sie feindlich behandelt werden, keiner ihnen einen Stadtplan in die Hand gibt. Wie sollen sie sich denn da orientieren? Und wie sollen sie dann, nach 50 Jahren Kalten Krieg, plötzlich sich daran erinnern? Und dann haben wir aber doch bei der Arbeit festgestellt, dass es da doch erstaunlich präzise Erinnerungen gibt. Wenn sie die Adresse nicht genau wussten, dann haben sie gesagt: 'Na ja, da war rechts ein Fluss und gegenüber eine Kirche und nebendran eine Brücke.' Und wenn man heute auf Google-Maps guckt, dann sieht man: Aha, genau da war das! Und kann das identifizieren."
Schild am Eingang des Dokumentationszentrums NS-Zwangsarbeit Berlin-Schöneweide.
Dokumentationszentrum NS-Zwangsarbeit: Zeitzeugenarchiv online
Das Berliner Dokumentationszentrum NS-Zwangsarbeit hat sein erweitertes Zeitzeugenarchiv online gestellt. Es enthält audiovisuelle Interviews, Briefe, Dokumente und Fotografien. Das Angebot ist nicht nur für Seminare und Workshops interessant.
Nicht wenige Zeitzeugen des Zwangsarbeiter-Archivs berichten über Lager, Fabriken und Verbrechen, über die bis heute nur Weniges bekannt ist. Dabei prägen sich nach Pagenstechers Erfahrung gerade traumatische und hoch emotionale Lebensphasen oft stabil ins Langzeitgedächtnis ein – als ein Erinnerungskern, der über die ganze Lebensspanne erhalten bleibt. Der Historiker glaubt: Wer die Erinnerungen der Zwangsarbeiter als historische Quelle ernst nimmt – mit Empathie zum Menschen und wissenschaftlicher Distanz zum Gesagten –, der hat noch viel zu erforschen.
Rückkehr nach Göttingen - als Zeitzeugin
Nicht nur Lilija Derjabina überlebt die Zeit in Göttingen, auch ihre Mutter und ihr Bruder kehren im Juni 1945 in die Sowjetunion zurück. Doch die Zwangsarbeit bleibt ein Familientabu. Denn in der Stalin-Ära stehen Deutschland-Rückkehrer unter Generalverdacht. Abertausende landen als vermeintliche Spione und Volksverräter in sibirischen Gulags. Und auch die Derjabinas, obgleich offiziell vom Vorwurf der Kollaboration freigesprochen, müssen mit diesem Stigma weiterleben:
"Ich hab das fast mein ganzes Leben versteckt. Ich habe doch bemerkt, wie die Leute dazu standen! Und mich haben die Mitschüler in der Schule ausgelacht, weil meine Haare in der Zwangsarbeit schlohweiß geworden waren. Wir haben uns geprügelt. Danach hatte ich meinen Spitznamen weg: ‚Weiße Lilija’. So habe ich jetzt auch mein Buch genannt: ‚Weiße Lilija’."
Seit Derjabina schreibt, ist die Erinnerung ihre schärfste Waffe in ihrem Kampf um Anerkennung. Die Pensionärin hatte die Bilder von stampfenden Kolonnen im Kopf, als sie die russischen Behörden verklagte, weil diese ihr den Status als "Kriegsveteranin" nicht zuerkennen wollten. Sie dachte an die Folternarben auf ihrem Körper, als sie den Papierkrieg um die Entschädigungszahlungen aus Deutschland führte:
"Als ich die ersten Episoden aufgeschrieben habe, bin ich in der Nacht aufgewacht. Da sah ich die Ereignisse plötzlich vor meinem inneren Auge ablaufen wie einen Kinofilm. Ich sah, wer wann an welcher Stelle gestanden hat, wie er angezogen war und was er gesagt hat. So habe ich begonnen, dieses Buch zu schreiben."
Am besten aber erinnert sich Derjabina an das Haus von "Frau Anna" – jene Göttinger Bürgerin, die sie bei sich aufnahm, um ihre Wunden vom Gestapo-Verhör zu pflegen. Nach der Lagerbefreiung war sie mit ihrer Mutter dorthin gegangen, um Danke zu sagen. Doch anstelle des Hauses fanden sie nur einen Bombenkrater:
"Es war ein Backsteinhaus – sehr schön, mit drei Etagen! Es lag an einem Fluss. Aber davon ist ja nichts mehr übrig geblieben – ob ich die Nachbarhäuser finden könnte? Um dorthin zu gelangen, musste man über eine Brücke gehen. Links stand eine Kirche, rechts ging es zu Frau Anna. Und ganz in der Nähe gab es eine Allee mit Obstbäumen. Die war sehr schön!"
Könnte Lilija Derjabina die Brücke am Haus von "Frau Anna" wiederfinden – anhand einer 75 Jahre alten Erinnerung? Oder im Schützenparkplatz den Ort mit dem unheilvolle Badehaus wiedererkennen, von dem sie glaubt, dass dort kurz vor Kriegsende die Bewohner mehrerer Baracken ermordet wurden? Bald wird sie es wissen: Der Oberbürgermeister von Göttingen hat sie eingeladen. Im Mai 2020, bei den Feierlichkeiten zum 75. Jahrestag des Kriegsendes, soll sie der Ehrengast sein – als die vermutlich letzte noch lebende Zeitzeugin der Zwangsarbeit in Göttingen.