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Zwei Außenseiter in ihrer und gegen ihre Zeit

Mit großer Empathie hat Andreas Maier eine Neuausgabe von "Altershausen" kommentiert, die zu Raabes 100. Todestag herauskam. Maiers Roman "Das Zimmer" schildert einen Tag im Leben eines durch einen Geburtsfehler geistig behinderten Mannes in der Wetterau der 60er- und 70er-Jahre.

Von Katrin Hillgruber | 24.11.2010
    "Komödianten und Literaten sollten nicht alt werden, wenn sie auf dem Seil bleiben müssen!", klagte Wilhelm Raabe 1897 in einem Brief an einen Bekannten namens Gerber. Mit Erreichen seines siebzigsten Geburtstags am 8. September 1901 nannte sich Raabe forthin selbstironisch "Schriftsteller a.D.". Auch der Held des radikalsten seiner rund 68 Prosawerke, des Erzählfragments "Altershausen", ist ein Emeritus. Der verwitwete Professor Dr. med. und Wirkliche Geheime Rat Fritz Feyerabend trägt das Moment des Abschieds, des Welt- und Lebensüberdrusses, schon in seinem Namen. Angewidert von den pompösen Feierlichkeiten zu seinem runden Geburtstag und aus "Heimweh nach der Jugend", wie es heißt, bricht er zu einer letzten Reise auf: in sein idyllisches Geburtsstädtchen Altershausen. Nicht von ungefähr klingt das nach Eschershausen, Raabes Geburtsort in der Nähe von Braunschweig. In Altershausen erlebt Fritz Feyerabend eine Überraschung, die ihn 60 Jahre zurückkatapultiert. Denn am Bahnhof empfängt ihn ein Gepäckträger, der sich als sein ehedem engster Freund entpuppt: Ludwig Bock, genannt Ludchen.

    "Ich bin ja Ludchen, greinte das Gespenst, und Fritze Feyerabend aus Altershausen, der weder in den Wonnneburgen der Fürsten dieser Erde noch sonstwo dem Erdenelend gegenüber mit den Augen gezwinkert hatte, fuhr zusammen und trat drei Schritte zurück und stammelte: Ludchen Bock?"

    Als Gespenst erscheint Ludchen seinem Jugendfreund deshalb, weil er als Zwölfjähriger vom Baum fiel. Er verletzte sich so schwer am Kopf, dass er auf dieser Entwicklungsstufe stehenblieb. Seitdem wird er selbstlos von der alten Jugendfreundin Minchen Ahrens betreut. Ludchen Bock verkörpert in "Altershausen" Vergangenheit und Gegenwart, Kindheit und Alter. Zwischen diesen Ebenen schaltet der Autor munter hin und her. Unter den deutschen Romanciers der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts sei Raabe derjenige gewesen, der sich am wenigsten von Kindheit und Jugend verabschiedet habe, schreibt Arno Geiger in seinem Nachwort zur Manesse-Neuedition von Raabes "See- und Mordgeschichte" "Stopfkuchen". In "Altershausen" heißt es:

    "Das Alter spricht oft der Kindheit ein Wort nach, weil es von Natur kein besseres weiß."

    In seinem letzten Werk, mit dem er die Zeitgenossen ratlos zurückließ, hat Wilhelm Raabe die literarische Kindheitssuche ins Extrem getrieben. Das Buch aus dem Jahr 1911 verstört in seinem schroffen Kontrast aus Idylle und tiefer innerer Ausweglosigkeit noch heute. Das sieht auch Andreas Maier so, der diesjährige Träger des Wilhelm-Raabe-Literaturpreises:

    "Zum einen sind die auftauchenden Figuren ziemlich schockierend, der Ludwig Bock zum Beispiel, der mit zwölf in seiner Entwicklung stehen bleibt. Andererseits das Minchen Ahrens, die irgendwie auch stehen geblieben ist im positiven Sinne, weil sie sich um Ludwig Bock gekümmert hat seit seinem Sturz. Und das eigentlich Schockierende an 'Altershausen', und weshalb auf eine gute, produktive der Text auch nicht zu einem Ende kommen konnte, war eben diese Aporie, dass der Feyerabend, der an diesen Ort reist, nach Altershausen, in seine Kindheit zurück, durch das Ankommen in Altershausen sich so sehr verändert, dass er eigentlich anschließend gar nicht zurückkommen kann. Raabe hat den Text aber angefangen aus einer Perspektive, als sei Feyerabend bereits zurückgekommen. Nur aus dieser Perspektive konnte er das schildern, und diese Perspektive ging genau nicht auf. Und für mich ist das fast eine Summe unter Raabes Lebenswerk, dass diese Perspektive nicht zu Ende erzählt werden kann. Da liegt im Grunde genommen dieselbe Aporie, mit der wir Menschen immer herumlaufen, dem Text zugrunde."

    Mit großer Empathie hat Andreas Maier eine Neuausgabe von "Altershausen" kommentiert, die zu Raabes 100. Todestag im Insel-Verlag herauskam. Maiers Roman "Das Zimmer" schildert einen Tag im Leben eines durch einen Geburtsfehler geistig behinderten Mannes in der Wetterau der 60er- und 70er-Jahre. Diesen seinen "Onkel J." stellte Maier schon in diversen Kolumnen als reinen Toren dem Zerstörungswillen des Wirtschaftswunders entgegen. Ein aussichtsloser Kampf, ähnlich wie der des Müllers Pfister gegen die Verwüstungen durch eine Zuckerfabrik in Raabes Roman "Pfisters Mühle". J. steht noch mit einem Bein im Paradies. Er lässt sich von seinen Mitmenschen quälen, denen er nichts entgegensetzen kann. Eine anrührende Gestalt, die postum zumindest literarisch Gerechtigkeit erfährt.

    Der intentionslose Onkel J. erscheint wie Raabes Ludchen Bock als ideale Projektionsfläche für die Zeit, in der er lebt, aber ebenso als Medium der Zeitkritik. Onkel J. steht - selbst als Autofahrer - in der vom Modernisierungswahn bedrohten Landschaft Wetterau völlig still; ebenso Ludchen Bock in der prosperierenden Gründerzeit der 1890er-Jahre. Das bedeutete eine ungeheure Provokation, die Raabe durch die scheinbare Schlichtheit seiner Charaktere tarnte. Andreas Maier:

    ""Dass es zwischen Ludchen Bock, einer auf den Kopf gefallenen und eben auch behinderten Gestalt aus Altershausen und zwischen dem Onkel J., der Protagonist meines Romans 'Das Zimmer' ist, dass es da Parallelen gibt, ist mir ehrlich gesagt erst durch die Raabe-Preisverleihung bewusst geworden. Ich habe neulich - Raabe ist ja im Augenblick relativ da in den Medien -, irgendwo gelesen, Raabe habe die sozial Niedriggestellten und Behinderten in den Vordergrund gestellt. Das hat er natürlich mit 'Altershausen' nicht gemacht, aber das Ludchen Bock kommt da halt vor. Ich mache es auch nicht, aber bei mir kommt mein Zangengeburts-Onkel vor, und ich finde, beide Figuren dienen zu etwas ganz Ähnlichem. Also, letzten Endes sind sie eine Gegenfolie zu dem, was ich immer zivilisatorisches Tun nenne. Der Feyerabend in 'Altershausen', der erfolgreiche, große Arzt - und wer bringt ihn zum Weinen? Der alte Jugendfreund, der mit zwölf auf den Kopf gefallen ist, bei dem alles immer noch so ist wie früher. Und dem gegenüber sagt Feyerabend: Was ist eigentlich mein eigenes Leben gewesen? Tand."

    Bis heute rätselt die Germanistik darüber, ob Wilhelm Raabe die 16 Kapitel von Altershausen bewusst als Fragment angelegt hat. Jedenfalls stellt der letzte Satz, bevor der Text abbricht, eine Stafettenübergabe dar. Raabe übergibt den Erzähl- und Schicksalsfaden an eine Vertreterin der antiken Parzen, die ihn weiterspinnen soll. 'Alterhausen' endet mit dem Satz:

    "Und Minchen nahm den Strickstrumpf wieder auf."

    Wilhelm Raabe: "Altershausen", Insel-Bücherei Nr. 1335, 143 Seiten, 13,90 Euro
    Andreas Maier:"Das Zimmer", Suhrkamp Verlag, 203 Seiten, 17,90 Euro