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Zwei, die zusammengehören

Ein ungewöhnliches, ernstes Romandebüt hat Eberhard Rathgeb geschrieben: Zwei Schwestern, die gemeinsam durchs Leben gehen. Unabhängig von Männern und Kindern, emanzipiert, eigensinnig und erfolgreich. Und dennoch durchzieht die Geschichte eine leise Traurigkeit.

Von Christiane Wirtz | 18.07.2013
    Ein Paar sind zwei, die zusammengehören. Zwei Menschen, die gemeinsam durchs Leben geben, zumindest eine Strecke des Weges. Man denkt dabei an eine Frau und einen Mann, zwei Frauen, zwei Männer – im besten Falle sind sie in Liebe vereint, auch im körperlichen Sinne der Liebe. Doch eben diese Assoziation, diese Gewissheit erschüttert Eberhard Rathgeb in seinem stillen Roman "Kein Paar wie wir". Der Autor lässt zwei Schwestern gemeinsam durchs Leben gehen: Ruth, die Ältere und Vika, die ihr folgt:

    "Ich wechselte von der Seite der Eltern an die Seite der Schwester. Etwas anderes, etwas Eigenes kam mir nicht in den Sinn. Nie hatte ich den Wunsch, alleine zu leben oder mit einem Mann, einem Fremden. Wie gut zwei fremde Menschen sich auch kennenlernen, sie bleiben sich fremd. Ruth kannte mich von Anfang an, und ich kannte Ruth von Anfang an. Keinem Menschen war ich näher als ihr, keinen Menschen kannte ich besser als sie. Und auch für sie gab es keinen Menschen, dem sie näher war als mir und den sie besser kannte als mich. Ein Dritter hatte keine Chance. Dass wir beide zusammenblieben, lag auf der Hand."

    Sie bleiben zusammen, bis dass der Tod sie scheidet. Und hier, mit dem Abschied der einen Schwester, beginnt die Geschichte. Der Roman lebt von den Erinnerungen der beiden Damen. Wie ein altes Ehepaar haben sie ihren Alltag aufeinander abgestimmt, die Gedanken der einen fließen in die Gedanken der anderen. Ihr Gespräch ist "wie eine Nabelschnur", die sie verbindet und am Leben hält. Der Leser erfährt, dass die zwei Frauen in Deutschland aufwuchsen und vor der Machtübernahme Hitlers mit den Eltern nach Argentinien auswanderten. Ruth ist die Ältere und die Schöne. Vika die Jüngere und die Kluge. In einem Alter, in dem sie nach damaligen Maßstäben schon als alte Jungfern gelten mussten, verlässt erst die eine, dann die andere das Elternhaus. Sie gehen von Buenos Aires nach New York, sie sprechen drei Sprachen, machen Karriere, sorgen für sich selbst - finanziell und emotional. Und so ist diese Geschichte auch eine Emanzipationsgeschichte: Zwei Schwestern, die sich in den 50er-, 60er-Jahren gegen den Vater durchsetzen, der nicht an sie glaubt, und die sich ihr Leben lang nicht abhängig machen wollen von einem Mann.

    "Zusammen ergibt sich eben ein Modell, wo man sagen könnte, dass sie all das haben, was man eigentlich zum Glück braucht. Und durch das Sich-Ergänzen – man könnte im bösen Sinne sagen wie ein Geschäftsmodell, ist es aber nicht, sondern es ist ein Modell des Sich-Kennens über die Fehler, die man auch hat, und die kleinen Macken."

    Doch im Laufe der Lektüre beginnt der Leser allmählich zu ahnen, welchen Preis Ruth und Vika für ihre Unabhängigkeit zahlen. Zwischen den Zeilen entsteht beim Leser eine leise Traurigkeit, vielleicht sogar Bitterkeit, die sich die beiden Protagonistinnen selbst wohl niemals eingestehen würden. Am Ende ihres Lebens haben sie niemals die Erfahrung gemacht, Geliebte, Ehefrau oder Mutter zu sein. "Bloß nicht werden wie die eigene Mutter", so klingt ihr unausgesprochenes Credo und so haben sie sich für ein gänzlich anderes Rollenmodell entschieden. Denn von klein auf mussten sie beobachten, dass der Vater die Mutter betrügt, dass die Eltern - in der Ehe vereint - aneinander vorbei lebten. In der Welt, die sie kennenlernten, waren die Männer tyrannisch und die Frauen depressiv.

    "Die Mutter hatte Angst vor der Reise nach Südamerika, sie weinte, weil sie die Heimat nicht verlassen mochte, und die Tränen, die sie beim Abschied zu vergießen begann, versiegten erst, als sie weit draußen auf dem Meer war und kein Land mehr sah und das Gefühl der Verlorenheit überhandhandnahm. (…)

    Der Vater hätte bei der Abfahrt des Schiffes den Kopf nicht zurückwenden können, so fest hing sein Blick an dem, was auf ihn zukam. Er war nicht neugierig auf das fremde Land, das weit von der Heimat entfernt lag, sondern nur ehrgeizig. (…)

    Die Reise über das Meer trennte die Eltern, rückte sie noch auf der Überfahrt in Positionen, die sie ihr Leben lang beibehalten sollten, die Mutter am Heck, der Vater am Bug des Schiffes, angezogen von den Gestaden zweier Kontinente."


    Zwischen diesen beiden Kontinenten, so zeigt der Autor in verschiedenen Rückblenden, finden die beiden Mädchen ihre eigene, einsame Insel. Als die kleine Vika todkrank im Bett liegt, ist es Ruth, die Stunden um Stunden über ihr Leben wacht. Unausgesprochen geben sie sich das Versprechen, zusammenzubleiben. Den Tag und auch die Nacht verbringen sie bis ins hohe Alter Seite an Seite. Doch was, so fragt sich der Leser, wäre geschehen, wenn eine der beiden dieses Versprechen gebrochen hätte?

    "‘Die Männer sind dir nachgestiegen. Du hast dich vor Avancen nicht retten können. Alle wollten sie etwas von dir.‘

    Aber keiner bekam sie, dachte Vika. Sie ging keinem ins Netz. Sie ließ sich von ihnen nicht umgarnen. Dafür war sie zu klug. Wir blieben zusammen."


    Die geschwisterliche Liebe scheint Verankerung und Fessel zugleich. Doch schon stellen sich die nächsten Fragen: Ist die Liebe nicht allzu häufig das eine wie das andere? Und ist der Preis der beiden Frauen tatsächlich so hoch? Eberhard Rathgeb gibt in seinem kurzen Roman keine Antworten auf diese Fragen. Er überlässt es dem Leser, seine eigene Bilanz dieser ungewöhnlichen Leben zu ziehen. Ob die beiden Frauen unglücklich waren? Oder glücklicher als so viele andere Paare? Welche Liebe zählt? Der Autor lässt die zwei Schwestern von ihrem Leben erzählen, ihr Dialog, in dem Worte und Gedanken ineinanderfließen, zieht sich durch den ganzen Roman. Und immer wieder bereichert ein Erzähler die Geschichte mit seinem Wissen. Mit leisen Tönen vermag Eberhard Rathgeb den Leser in seinen Gewissheiten zu erschüttern, konfrontiert ihn mit der Sehnsucht nach einer lebenslangen Liebe und provoziert zugleich mit einem ungewöhnlichen Lebensmodell. Nicht zuletzt gibt er zwei Frauen eine Stimme, die am Ende mit ihrem Leben versöhnt scheinen - trotz allem - und in ruhiger Zufriedenheit zurückblicken.

    "Die beiden haben eine gewisse Modell- oder Parabelfunktion, als sie einem klarmachen können, was es bedeutet, in großem Ernst alt zu werden - auch in diesem Sinne, dass man sein Leben, das gelebte Leben so ernst nimmt und es nicht verspielt an die Illusion, was man eigentlich verpasst hat."

    "Kein Paar wie wir" ist eine Geschichte über die Liebe, die sich ihren eigenen Weg sucht. Und die es verdient, ernst genommen zu werden, weil sie ein Geschenk fürs Leben ist – ganz egal, in welcher Konstellation ein jeder sie finden mag.

    Eberhard Rathgeb: "Kein Paar wie wir"
    Carl Hanser Verlag, 186 Seiten, 17,90 Euro