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Zwei Kurzromane über das russische Landleben in erbarmungsloser Härte

In seinen beiden Kurzromanen, die in den Jahren 1910 bis 1912 entstanden sind, gibt Bunin einen Einblick in das russische Landleben nach der gescheiterten Revolution von 1905. Sie erzählen von den armseligen Behausungen, der sklavischen Ergebenheit und dem mitleidlosen Grausamkeit der Dorfbewohner.

Von Karla Hielscher | 16.01.2012
    Mit jedem Band von Iwan Bunins Ausgewählten Werken in Einzelbänden, diesem verdienstvollen Projekt des kleinen Züricher Dörlemann Verlages, durch das die in Deutschland fast vergessene Prosa des russischen Nobelpreisträgers von 1933 Schritt für Schritt zugänglich gemacht wird, eröffnet sich eine neue, überraschende Facette seines vielseitigen Werks.

    Die Erzählung "Ein unbekannter Freund" über die Verzauberung einer feinfühligen Seele durch Literatur zeigt den sensiblen Menschenkenner Bunin; sein literarisches Tagebuch von 1918 über die "Verfluchten Tage" der Oktoberrevolution ist ein faszinierendes Zeitdokument von erstaunlicher politischer Hellsicht; in den wunderbaren Beschreibungen seiner Reisen an die mythischen Ursprungsorte der Menschheit im Band "Sonnentempel" ist er immer auch den ungelösten ewigen Fragen des Lebens auf der Spur; seine hochpoetischen impressionistischen Prosastücke in "Vom Ursprung des Lebens" mit ihren farbigen Darstellungen des bäuerlichen Alltags und der mit allen Sinnen wahrgenommenen Naturschönheiten Mittelrusslands sind durchleuchtet vom milden Licht wehmutsvoller Erinnerung.

    Ganz anders dagegen die beiden Kurzromane "Das Dorf" und " Suchodol" in dem gerade erschienenen gleichnamigen Band. Sie zeigen das rückständige russische Landleben - die armseligen windschiefen Katen und schlammigen Wege, die sklavische Ergebenheit oder mitleidlose Grausamkeit der Dorfbewohner - in erbarmungsloser Härte.

    Entstanden in den Jahren 1910 bis 1912 beweisen diese Prosatexte, wie eindringlich und historisch fundiert sich der Schriftsteller - den Blick geschärft durch seine Weltreisen - mit der krisenhaften ökonomischen, sozialpsychologischen und mentalen Situation seiner Heimat nach der gescheiterten Revolution von 1905 auseinandersetzte. Im Gegensatz zu der in der russischen Intelligenzija verbreiteten idealisierenden Sicht auf den russischen Bauern, schildert der aus dem verarmten Landadel stammende Bunin, der seine ganze Kindheit und Jugend auf dem Dorf verlebte, das russische Volk ohne alle Illusionen.

    Auf den ersten anderthalb Seiten des Buches wird die Entwicklung Russlands seit Mitte des 19. Jahrhunderts am Schicksal der leibeigenen Bauernfamilie Krassow skizziert. Und sogleich der erste Satz schlägt ein wie ein Paukenschlag:

    Den Urgroßvater der Krassows, beim Gesinde der Zigeuner genannt, hetzte Rittmeister Durnowo mit Windhunden zu Tode. Der Zigeuner hatte ihm, seinem Herrn, die Geliebte ausgespannt.

    Der Großvater der Krassows erhielt den Freibrief, der Vater war schon ein kleiner Krämer geworden, und der weitere Text erfasst nun das Leben seiner beiden Söhne Tichon und Kusma zu Beginn des 20. Jahrhunderts, 45 Jahre nach der Bauernbefreiung. Das russische Dorf und seine Bewohner aber - gezeigt wird das an einer Vielzahl von Volkstypen: armen Bauern, Bettlern, Händlern, Tagelöhnern, Pilgern - versinkt wie eh und je in Schmutz, Elend, Unwissenheit und Gewalt.

    Die beiden so unterschiedlichen Brüder - Tichon, der an der Bahnstrecke eine schäbige kleine Schenke mit Trödelladen betreibt, und sein Bruder Kusma, der lernbegierige Träumer und schriftstellernde Autodidakt - demonstrieren typische Züge des russischen Charakters. Die Nachkommen von Leibeigenen finden keinen Weg aus der bedrückenden sozialen und moralischen Finsternis. Tichon, dem inzwischen das Gut der ehemaligen Herren von Durnowo gehört, fürchtet den wilden Aufruhr der Bauern, ist unglücklich über seine kinderlos gebliebene Ehe und meint etwas gut zu machen, wenn er die von ihm vergewaltigte Magd mit einem jämmerlichen Taugenichts verheiratet. Der nachdenkliche Kusma, der sich vage Ideen von Anarchismus und Tolstojanertum angelesen hat, wird von seinem Bruder als Gutsverwalter eingesetzt und versackt alsbald in Nichtstun und Lethargie.

    Vertieft wird der trostlose Befund dadurch, dass Bunin das Dorfleben fast immer aus der Innensicht Tichons oder Kusmas darstellt, die ihre eigene triste Lage und die ihres Volkes ständig reflektieren und beklagen, jedoch in Selbstmitleid und Selbstrechtfertigungen stecken bleiben.
    Ein Gespräch der Brüder:

    Tichon Iljitsch sagte keinen Ton. Er winkte nur ab, und in seinen auf die Lampe gerichteten Augen glitzerten Tränen.
    "Trinkst du?" wiederholte Kusma leise.
    "Ja", antwortete Tichon Iljitsch leise. "Da fängt man auch an zu trinken! Meinst du, mir wäre dieser goldene Käfig hier zugefallen? Meinst du, es wäre einfach, das ganze Leben wie ein Kettenhund zu leben, noch dazu mit der Alten? Ich hatte mit niemandem Mitleid, Bruder. Nun auch mich hat man nicht sonderlich bemitleidet! Meinst Du, ich wüsste nicht, wie sehr sie mich hassen? Meinst du, die hätten mich nicht erbarmungslos totgeprügelt, diese Bauern, wenn es richtig losgegangen wäre ... wenn ihnen diese Revolution geglückt wäre?"


    "Das ist Russland selbst und seine Geschichte", schreibt Bunin in einem Brief an Gorki. Auch in "Suchodol" geht es um die russische Geschichte, hier dargestellt am Abstieg und Untergang des kleinen Landadels. Bunin verarbeitet in dieser Erzählung literarisch die Familiengeschichte seiner eigenen Vorfahren. Es ist die von Liebe, Hass, Gewalt und Tod geprägte Chronik des einst blühenden Adelsgeschlechts von Suchodol, dessen Mitglieder im Laufe eines halben Jahrhunderts verarmt, degeneriert, zu Säufern geworden sind oder den Verstand verloren haben. Jedoch verbindet Bunin die schonungslose Beschreibung des Verfalls auf ganz eigenartige Weise mit dem unzerstörbaren Zauber der Erinnerung an das Leben in den verwunschenen alten Adelsnestern.

    Die Erzähler, die längst in der Stadt wohnenden Nachkommen der Familie, erfahren die Geschichte ihres angestammten, inzwischen verfallenen Landguts aus den Erzählungen der einfachen Hofmagd und Milchschwester des Vaters Natalja, die seit Generationen tief mit Suchodol verbunden ist, obwohl sie dort viel Kummer und Demütigung erlitt.

    Für uns war Suchodol nur ein poetisches Denkmal der Vergangenheit. Aber für Natalja? Schließlich hatte sie selbst einmal, wie zur Antwort auf ihren eigenen Gedankengang, mit großer Bitterkeit gesagt:
    "Ja, in Suchodol pflegte man sich mit einer Riemenpeitsche zu Tisch zu setzen! Allein die Erinnerung daran ist furchtbar!"
    "Wie, mit einer Riemenpeitsche? Mit einer Hundepeitsche?" fragten wir.
    "Das ist doch alles dasselbe", sagte sie.
    "Aber warum?"
    "Falls es Streit gäbe.


    Bunin zerstört mit dieser berührenden Erzählung jede idyllische Sicht auf das patriarchalische Russland und zeigt doch in der Gestalt Nataljas eine bewunderungswürdige Verkörperung der Würde und Hingabefähigkeit, der Duldsamkeit und Stärke des widersprüchlichen russischen Nationalcharakters.
    Wer einmal angefangen hat, Bunin zu lesen, der wird süchtig und wartet mit Ungeduld auf den nächsten Band.

    Iwan Bunin: Das Dorf. Suchodol. Aus dem Russischen von Dorothea Trottenberg. Herausgegeben und mit einem Nachwort versehen von Thomas Grob. Zürich, Dörlemann Verlag 2011, 384 Seiten, 23,90 Euro