Freitag, 19. April 2024

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Zwei Länder, ein Ballungsgebiet

Mit dem Beitritt Estlands zur Europäischen Union hat sich das Leben nach Westen verschoben: Während an der Grenze zu Russland nun strenge Kontrollen durchgeführt werden, ist eine Fahrt ins Nachbarland Finnland zur schnellen Spritztour geworden: Nur 80 Kilometer liegen die Hauptstädte Tallinn und Helsinki voneinander entfernt. Täglich pendeln viele mit der Fähre zwischen den beiden Städten: aus Tallinn und Helsinki wurde "Talsinki".

Reportagen von Friederike Schulz und Berthold Forssman | 11.10.2008
    Die Mitarbeiterin einer estnischen Fährlinie, die täglich zwischen der estnischen und der finnischen Hauptstadt pendelt:

    "Wenn ich arbeite, habe ich gar nicht das Gefühl, dass ich ständig zwischen zwei Ländern pendele. Inzwischen ist es so, dass ich eigentlich nicht mehr richtig merke, ob ich gerade in Tallinn oder in Helsinki bin. Viele Esten und viele Finnen reden inzwischen immer öfter von einer Stadt Talsinki, das ist natürlich nur eine Art Witz, aber wenn man Finnen fragt, wo sie leben und sie "Helsinki-Süd" sagen, dann meinen sie in Wirklichkeit Tallinn."

    Und ein finnischer Tourist, der sich in Tallinn um das Image seiner Landsleute sorgt:

    "Tja, die Esten ignorieren die Finnen meist, außer wenn sie besoffen sind. Aber dann kann es sein, dass sie ein wenig auf uns herabsehen und uns als Rentiere bezeichnen, weil sich manche Finnen hier leider wirklich wie Rentiere benehmen."

    Gesichter Europas: "Zwei Länder, ein Ballungsgebiet" - Europas neue Hauptstadtregion "Talsinki". Mit Reportagen von Friederike und Schulz und Berthold Forssman. Am Mikrofon begrüßt Sie Norbert Weber.

    Die Zentren der estnischen Hauptstadt Tallinn und der finnischen Hauptstadt Helsinki liegen nur rund 80 Kilometer Luftlinie voneinander entfernt, getrennt nur durch den finnischen Meerbusen. Seit der Unabhängigkeit Estlands, 1991, wachsen die beiden Metropolen zu einer neuen Großstadtregion zusammen. Längst kursiert unter den Einwohnern die scherzhafte Bezeichnung "Talsinki", zusammengesetzt aus den Namen Tallinn und Helsinki.

    Bereits vor dem Zusammenbruch der Sowjetunion orientierte sich das kleine, knapp 1,4 Millionen Einwohner zählende Estland stark an Finnland, dem "Tor zum Westen". Seit der Wende betrachten es die Esten als großes Vorbild. Russland, die einstige Kolonialmacht, wurde dagegen immer mehr zum ungeliebten Nachbarn, obwohl oder gerade weil in Estland eine große russischsprachige Minderheit lebt, deren Angehörige oft auch die russische Staatsbürgerschaft haben.

    Viele von ihnen wohnen im Osten des Landes, nahe der russischen Grenze. Während sich die Hauptstadt Tallinn und der Rest des Landes immer stärker nach Finnland orientieren, gerät die Region an der EU-Außengrenze ins Hintertreffen, vor allem seit Estland jetzt auch noch dem Schengen-Raum beigetreten ist.


    Leben an der EU-Außengrenze - Wie der Schengen-Beitritt Estlands die Stadt Narva verändert
    Tatjana wischt sich den Schweiß von der Stirn. Seit zwei Stunden kontrolliert die estnische Zollmitarbeiterin am Grenzübergang Narva einen Fußgänger nach dem anderen. Die kleine stämmige Frau trägt eine blaue Uniform. An den Händen: schwarze Samthandschuhe.

    "Machen Sie mal bitte Ihren Rucksack auf, zeigen Sie mal Ihre Tasche her. Was ist denn da in Ihrer Jacke?"

    Obwohl Tatjana von ihrer Kollegin Maria unterstützt wird, hat sich vor dem Container der Zollkontrolle eine Schlange gebildet. An der Außengrenze der Europäischen Union in Narva herrscht jeden Tag Hochbetrieb. Zahlreiche Fußgänger wollen vom russischen Iwangorod auf der anderen Seite des Grenzflusses über die Brücke hierher ins estnische Narva. Vor der Wende spielte die Grenze zwischen der estnischen und der russischen Sowjetrepublik und damit zwischen den beiden Städten keine Rolle, erinnert sich Tatjana:

    "Früher, bis vor siebzehn Jahren, gab es natürlich keine Pass- und Zollkontrollen zwischen Iwangorod und Narva, obwohl es schon damals zwei getrennte Städte waren. Man lief eben rüber oder nahm den Bus."

    Tatjana spricht fehlerfrei estnisch, ihr russischer Akzent ist jedoch nicht zu überhören. Wie die große Mehrheit der Einwohner Narvas ist sie russischstämmig. Viele Bewohner sprechen kaum Estnisch. Selbst in Geschäften kommt man damit nicht weiter, obwohl es das Gesetz vorschreibt. Doch die Sprachkontrollbehörde in der Hauptstadt ist bei einer solchen Bevölkerungszusammensetzung machtlos. Die Gegend um Narva an der EU-Außengrenze ist seit der Unabhängigkeit Estlands letzte Bastion vor der Grenze zum ungeliebten Russland. Was hier passiert, lässt sich im westwärts gewandten Tallinn nicht immer so genau kontrollieren.

    Maria spricht eine junge Frau an, bittet sie, ihren Rucksack zu öffnen. Dann greift die Beamtin in eine Seitentasche und zieht mehrere Päckchen Zigaretten heraus. "Kommen Sie bitte mal mit", sagt sie höflich, aber bestimmt. Die junge Frau nickt schuldbewusst.

    "Schnaps und Zigaretten werden am häufigsten geschmuggelt - das kommt mehrmals am Tag vor. Die Leute verstecken die Sachen an allen möglichen Orten, ob nun in Taschen, in der Kleidung oder sogar direkt am Körper. Ich passe da einfach nur ganz genau auf, ob es irgendwelche Stellen am Körper oder in den Taschen gibt, wo nicht alles so ist, wie es eigentlich sein sollte - und siehe da, dann zieht man eben auf einmal diese Zigaretten hervor."

    Hinter der jungen Frau wird die Schlange immer länger, ungeduldig schüttelt eine ältere Dame den Kopf.

    "Das ist schon komisch für uns, jedes Mal, wenn wir zum Einkaufen rüber wollen, müssen wir hier warten. Ich kaufe auf der anderen Seite mehrmals in der Woche Lebensmittel und Zigaretten, die sind da drüben billiger. Schließlich habe ich keine Arbeit und auch kein Geld. So sieht das aus. Nein, nach der Auflösung der Sowjetunion ist es für uns in Narva nicht gut gelaufen. Wir leben seither am Ende der Welt."

    Maria hat der jungen Frau die Zigaretten abgenommen. Sie lächelt, streicht sich verlegen eine braune Strähne aus dem Gesicht. Die 21-Jährige arbeitet erst seit fünf Monaten beim Zoll und ist noch stolz über jeden Fund. Als nächste ist die alte Dame an der Reihe, Maria wirft einen Blick in deren Leinentasche, lässt sie passieren.

    Tatjana ist inzwischen zur PKW-Kontrolle hinübergegangen, löst eine Kollegin ab. Ein roter Opel fährt vor, ein älteres Ehepaar steigt aus. Tatjana greift eine Tasche vom Rücksitz, durchsucht sie. Dann lässt sie den Wagen passieren. Die Kontrolle dauert keine fünf Minuten, dicht an dicht rollen die Wagen über die Grenze. Auf dem Parkplatz nebenan stauen sich dagegen die Lastwagen. Gelangweilt stehen die Fahrer daneben, rauchen. Tatjana zuckt mit den Schultern, winkt den nächsten PKW heran.

    "Sie stehen und warten, aber auch wenn wir schneller arbeiten würden, dann geht es auf der anderen Seite in Russland nicht weiter, zum Beispiel: Heute früh mussten die hier zwei Stunden lang warten, und da konnten wir dann auch nichts machen. Es hängt immer davon ab, wer auf der anderen Seite Dienst macht. Da gibt es drüben Schichten, die schnell sind und welche die furchtbar rumtrödeln, aber wir wissen ja nie, was da gerade drüben abläuft."

    Tatjana winkt den nächsten Wagen heran, einen VW-Bus. Die Insassen steigen aus, die Zollmitarbeiterin öffnet die Heckklappe. Bis zum späten Abend wird sie ein Auto nach dem nächsten abfertigen und dabei immer die Brücke nach Iwangorod im Blick haben. Ob sie es seltsam findet, ihre Mitbürger und die Nachbarn aus Russland zu kontrollieren, die hier früher unbehelligt durchfahren konnten? Nein, sagt die Beamtin, so sei das eben heute, für sie sei das ein ganz normaler Job. Und sie öffnet den nächsten Kofferraum.



    In Estlands Hauptstadt Tallinn verstanden bereits zu Sowjetzeiten viele Esten Finnisch, weil sie die Sprache über das finnische Fernsehen gelernt hatten. Die Esten waren somit die einzigen Bürger der Sowjetunion, die überhaupt "West-Sender" empfangen konnten. Die Sprache war relativ leicht zu verstehen, denn Estnisch und Finnisch haben gemeinsame Wurzeln.

    Auch geschichtlich gibt es viele Parallelen. Beide Länder gehörten zum Beispiel zur Zarenzeit zum Russischen Reich und machten sich 1918 selbständig. So war es nach der 1991 wiedererlangten Unabhängigkeit in Estland wenig verwunderlich, dass Finnland zum großen Vorbild wurde. Und obwohl die beiden Hauptstädte der Finnische Meerbusen trennt, sind viele ihrer Einwohner der Ansicht, dass die neue gemeinsame Hauptstadtregion "Talsinki" bereits Realität ist. Nach der Wende waren die Überfahrten oft noch unbequem und aufwendig. Inzwischen sind durch den Beitritt Estlands zum Schengenraum die Grenzformalitäten entfallen, und die Distanz zwischen den beiden Städten lässt sich in nur 100 Minuten zurücklegen - zum Beispiel mit den Katamaranen der Fährlinie "SuperSeaCat".


    Alltag in "Talsinki" - Wie die Mitarbeiterin einer estnischen Fährlinie die neue Nähe zu Finnland erlebt
    Kurz vor 16 Uhr. Die "Superseacat 3" liegt im Hafen von Tallinn zum Ablegen bereit. Auf dem Quai stehen die Passagiere Schlange, zeigen ihre Tickets vor, gehen an Bord, verteilen sich auf die zwei Decks. Dreimal am Tag pendelt die Fähre zwischen den Hauptstädten Estlands und Finnlands hin und her, 680 Personen finden auf ihr Platz, oft ist sie ausgebucht. An der Gangway hängen Werbeplakate: Tallinn-Helsinki in 100 Minuten.

    Die Cafeteria und die Snackbar sind bereits geöffnet. Meeli Lepik geht zur Kasse, überprüft das Wechselgeld. Wie alle Angestellten trägt die Service-Chefin die blaue Uniform der Fährlinie. Die 29-jährige Estin ist kunstvoll geschminkt, ihre halblangen blond gefärbten Haare fallen auf die Schultern. Meeli lebt in Tallinn, dort geht sie jeden Morgen an Bord. Dann fährt sie zweimal hin und wieder zurück. Meeli blickt auf die Uhr, nickt zufrieden - das Schiff hat pünktlich um viertel nach vier abgelegt, lässt den Hafen von Tallinn hinter sich.

    "Wenn ich arbeite, habe ich gar nicht das Gefühl, dass ich ständig zwischen zwei Ländern pendele. Inzwischen ist es so, dass ich eigentlich nicht mehr richtig merke, ob ich gerade in Tallinn oder in Helsinki bin. Aber nicht nur mir geht es so. Viele Esten und viele Finnen reden inzwischen immer öfter von einer Stadt Talsinki, das ist natürlich nur eine Art Witz, aber wenn man Finnen fragt, wo sie leben und sie "Helsinki-Süd" sagen, dann meinen sie in Wirklichkeit Tallinn."

    Wie es zu Sowjetzeiten war, als nur ein einziges Fährschiff verkehrte und es für Esten einen großen Aufwand bedeutete, ein Visum für Finnland zu bekommen, daran kann sich die junge Frau kaum noch erinnern. Sie war zwölf, als Estland unabhängig wurde. Meeli geht durch das untere Deck in Richtung Cafeteria, vorbei an den gepolsterten Sitzen, wo es sich die Passagiere bequem gemacht haben. Die meisten lesen Zeitung, nur wenige beachten das Panorama der Altstadt, das sich beim Blick zurück bietet. Viele seien Stammgäste, die sie immer wieder treffe, sagt Meeli.

    "Vor zwei Jahren waren es allerdings noch praktisch zu 80 Prozent Finnen, heute ist es eigentlich eher andersherum. Es ist wirklich so, dass immer mehr Esten nach Finnland fahren, im Sommer sind außerdem noch viel mehr internationale Touristen unterwegs als früher. Ein Grund ist sicher der, dass die finnischen Touristen weniger zum Einkaufen nach Estland kommen, weil die Lebenshaltungskosten in Estland immer mehr steigen. Und gleichzeitig werden die Esten immer zahlungskräftiger, um beispielsweise auch in Finnland einzukaufen und Urlaub zu machen. Und dann gibt es natürlich auch die Esten, die in Finnland arbeiten. Die machen einen immer größeren Anteil der Reisenden aus."

    Heute Nachmittag sind die Sitzreihen spärlich belegt, nur rund die Hälfte der Plätze ist gebucht. An der Kasse der Cafeteria hat sich dennoch eine kleine Schlange gebildet. Ein Familienvater bestellt Pizza für seine drei Kinder, zwei Frauen holen Kaffee und Kuchen. Meeli deutet mit einem Kopfnicken in ihre Richtung, schmunzelt. "Heute kann ich nicht mehr so genau sagen, welche Nationalität sie haben", sagt sie.

    "Der Kleidungsstil verrät die Esten noch am ehesten. Die Frauen sind zum Beispiel stärker geschminkt und tragen meist Absatzschuhe. Die Finnen tragen eher Outdoor-Kleidung. Vor ein paar Jahren merkte man den Unterschied aber auch an den finanziellen Dingen. Die Esten kauften weniger zu Essen und zu Trinken an Bord als die Finnen. Die Esten packten erst mal ihre Stullen und ihre Thermoskannen aus und stellten sie auf den Tisch. Aber heute ist es schwieriger, die Unterschiede zu sehen, obwohl sich der Kleidungsstil nicht grundlegend geändert hat."

    Nach einer Viertelstunde hat das Schiff die offene See erreicht, über Lautsprecher werden die Passagiere jetzt viersprachig - auf Estnisch, Finnisch, Schwedisch und Englisch - über das Anlegen der Rettungswesten informiert. Das Schiff fährt jetzt mit voller Geschwindigkeit: 35 Knoten - rund 70 Stundenkilometer.

    Meeli rückt die Flaschen im Regal des kleinen Getränkeladens zurecht, dann blickt sie in Fahrtrichtung aus dem Fenster. Im Augenblick ist nur Wasser zu erkennen, die Küste Finnlands liegt noch hinter dem Horizont.
    "Für mich ist Finnland eine zweite Heimat. Ich würde sagen, dass die estnische und finnische Kultur, der ganze Hintergrund, das ist alles total ähnlich, die Esten sind insgesamt einfach sehr nordeuropäisch."

    Seit fünf Jahren hat sie einen finnischen Freund, mit dem sie bis vor Kurzem in Helsinki gelebt hat. Nun haben sie eine gemeinsame Wohnung in Tallinn, wo Meelis Familie lebt. Ein bisschen vermisse sie Helsinki aber schon, sagt sie.

    "Tallinn entwickelt sich sehr schnell, und es wird unglaublich viel gebaut, aber in vieler Hinsicht ist es darum auch eine ziemlich nervige Stadt. Wenn ich wählen könnte, in welcher Stadt ich leben wollte, dann würde ich mich auf jeden Fall für Helsinki entscheiden. Es ist friedlicher, ruhiger, sicherer, das alltägliche Leben ist viel angenehmer, die öffentlichen Verkehrsmittel, das städtische Grün, das ist alles so ordentlich, der Verkehr, die Dienstleistungen, das ist einfach viel bequemer."

    Es war ihr Freund, der auf die Idee kam, gemeinsam nach Tallinn zu ziehen. Der ist Designer und wollte sich selbstständig machen, und das gehe in Estland nun mal viel besser als in Finnland, erklärt die junge Frau.

    "In Tallinn laufen alle Prozesse viel schneller ab, das Lebenstempo ist schneller, es ist alles spannender, zum Beispiel wenn man ein neues Unternehmen gründen oder etwas Neues auf die Beine stellen will, dann sind die Chancen in Tallinn viel besser. Denn Helsinki ist einfach statischer, alles ist schon dort, wo es hingehört. Deswegen ist es in Tallinn viel einfacher, ein Unternehmen zu gründen und sein eigenes Ding zu machen, weil das Geschäftsumfeld so viel unkomplizierter ist als in Finnland."

    Meeli geht ans andere Ende des Schiffes zum Mannschaftsraum. Dort wartet schon eine Kollegin auf sie, mit der sie noch den neuen Dienstplan besprechen muss. Da passiert die Fähre auch schon wieder die Inselfestung Suomenlinna, und wieder einmal sind die 100 Minuten zwischen Tallinn und Helsinki vorbei.




    Eeva Park ist eine der bekanntesten Schriftstellerinnen Estlands. Sie ist 1950 geboren und lebt in der Nähe von Tallinn. Ihre Werke wurden ins Finnische, Schwedische, Englische, Russische und Ungarische übersetzt. In ihren Gedichten und Kurzgeschichten setzt sie sich immer wieder mit dem Verhältnis ihrer Landsleute zur eigenen Geschichte auseinander. Sie thematisiert die unbewältigte Sowjet-Vergangenheit und die ungewohnte neue Freiheit, so auch in ihrem Gedicht "Die Fahrt nach Helsinki".

    "Wir fahren durchs Eis,
    hinter uns - eine schwarze Furche,
    und keiner von uns weiß genau:
    Streift er grad' die Vergangenheit ab,
    oder ist er gar auf der Flucht?

    Die Männer am Nachbartisch
    verschwenden keinen Blick
    auf die hohen Türme der Stadt.
    Starren in ihre Biergläser,
    einer von ihnen hat schnarchend
    seinen Kopf auf die Platte gelegt.
    Die Bauarbeiter neben ihm,
    sprechen von ihrem neuen Projekt,
    davon, dass man in Norwegen
    noch mehr verdient als in Finnland
    und dass man dort süße Wurst isst.
    Eine Band tritt auf,
    die Sängerin singt.
    "Love me tender" klingt
    so schrecklich
    aus ihrem zarten Mund.

    Wir lachen.

    An Bord auch die Diebe,
    doch schleppen sie leere Tüten,
    ich glaube, sie arbeiten heute
    nicht hier auf dem Schiff,
    sondern wollen in die Läden der Stadt.

    Wir alle fahren
    durch das Eis.
    Hinter uns - eine schwarze Furche.
    Captain Scott steht am Steuer der "Fram".
    Ich fürchte, es ist eine Flucht.
    Die Witterung ist so schlecht.
    Ein trauriger Schwuler hält Wache,
    auf dem Männerpissoir,
    und ständig klappt die Tür.

    Wir fahren
    durch das Eis.
    Hinter uns - eine schwarze Furche.
    und keiner von uns weiß genau:
    Streift er grad' die Vergangenheit ab,
    oder ist er gar auf der Flucht?"

    Viele Finnen sehen in Tallinn seit der Wende nicht nur ein attraktives Reiseziel, sondern auch ein Einkaufsparadies. Wie in den anderen nordischen Ländern war in den 90er Jahren in Finnland alles sehr teuer, angefangen von Lebensmitteln bis hin zu Kleidung und Schuhen. In Estland kosteten Waren und Dienstleistungen dagegen nur einen Bruchteil, außerdem lockten liberale Alkoholgesetze. Eine Besichtigung der mittelalterlichen Altstadt von Tallinn wurde daher gerne beispielsweise mit einem Gang zum Friseur oder mit einem Restaurantbesuch kombiniert, und am Schluss kaufte man noch ein paar Paletten Bier oder Wein und Schnaps. Inzwischen hat sich das Preisniveau der beiden Länder in vielen Bereichen weit gehend angeglichen, aber noch immer ist Tallinn für viele Finnen Ziel für eine kleine Schnäppchenjagd.

    Billig ist hier nur noch der Alkohol - Finnische Touristen in Tallinn
    Auf dem breiten Gehweg der Hafenstraße Tallinns, der Mere Puiestee, drängeln sich die Fußgänger auf dem Weg in die Stadt. Sie sind mit der Mittagsfähre aus Helsinki gekommen. Die meisten ziehen Rollkoffer hinter sich her oder tragen große, leere Sporttaschen. Zielstrebig steuert eine größere Gruppe auf den Eingang eines Getränkemarkts zu. "Liviko" steht in großen Lettern über dem Eingang - eine estnische Schnaps-Marke. Als die Gruppe das Geschäft wieder verlässt, sind die Taschen und Koffer voll mit Wein- und Wodkaflaschen. Ulf Böstman und seine Frau Inge - er in legerer blauer Windjacke und heller Baumwollhose, sie in figurbetontem grünen Parka und Tweed-Hose - schlendern gelassen daran vorbei. Sie haben keinen Trolley dabei, nur einen kleinen Rucksack. In ihrer Mitte: Ulfs 90-jährige Mutter Alli, die zwar am Stock geht, aber dennoch ein flottes Tempo vorlegt. Inge blickt auf ihre Landsleute, die den Eindruck machen, als gebe es die nächsten vierzehn Tage nichts zu trinken. Die 63-Jährige schmunzelt.

    "Ich kann das schon nachvollziehen, denn bei uns in Finnland ist Alkohol sehr teuer. Ich kann verstehen, dass die Leute hierher kommen, um auf Vorrat zu kaufen, aber ich kann nicht begreifen, dass man sich dann gleich an Ort und Stelle besaufen muss, wie das viele gern tun."

    Inge spricht Schwedisch - sie und ihr Mann gehören der schwedischsprachigen Minderheit in Finnland an. Sie beherrschen beide Sprachen fließend und wechseln ständig hin und her. Sie arbeitet in Helsinki als Französisch-Lehrerin, er ist Diplomkaufmann. Ulf weist verstohlen auf zwei Frauen, die an der Bushaltestelle neben dem Getränkemarkt stehen. Die Frauen beobachten eine Gruppe Finnen, die zwei Sackkarren mit Bierpaletten beladen, und stecken die Köpfe zusammen. Ulf zuckt mit den Schultern.

    "Tja, die Esten ignorieren die Finnen meist, außer wenn sie besoffen sind. Aber dann kann es sein, dass sie ein wenig auf uns herabsehen und uns als Rentiere bezeichnen, weil sich manche Finnen hier leider wirklich wie Rentiere benehmen."

    Zwei- bis dreimal im Jahr nimmt das Ehepaar die Fähre nach Tallinn und macht einen Tagesausflug. Heute wollen die beiden vor allem Ulfs Mutter zeigen, wie sehr sich das Zentrum von Tallinn seit der Wende verändert hat. Die pittoreske Altstadt lassen die drei links liegen. "Dorthin gehen nur alle diese Touristen", sagt Ulf. Als sie auf dem Weg ins Geschäftsviertel an einer Ampel stehen bleiben, deutet Inge auf die Glasfassaden der Hochhäuser.

    "Ach ja, als wir zum ersten Mal hierher kamen, das war vor langer Zeit, 1991 oder 1992 oder so, direkt nachdem Estland unabhängig und die Sowjetunion aufgelöst wurde."

    "Seitdem hat sich hier enorm viel verändert. Es ist ungeheuer viel gebaut worden, Tallinn ist manchmal fast schon moderner als Helsinki, wenn man sich hier umsieht, und es werden nach wie vor viele neue Häuser gebaut. Außerdem gibt es ziemlich viele neue Restaurants, wo man gut essen gehen kann, und auch die Speisekarten haben sich entsprechend verändert."

    Alli bleibt zögernd vor dem Eingang des neuen Einkaufszentrums stehen, sie traut sich mit ihrem Stock nicht durch die Drehtür. Ulf hakt seine Mutter unter, schiebt sie behutsam vorwärts. Das Einkaufszentrum erinnert an eine amerikanische Shopping-Mall. In der Mitte: ein großer überdachter Innenhof, außen herum reiht sich ein Geschäft an das nächste. Mit gläsernen Fahrstühlen gelangt man auf drei verschiedene Ebenen. Ulf nimmt jedoch die Rolltreppe ins Untergeschoss.

    Unten angekommen schnappt er sich einen Einkaufskorb und passiert den Eingang zum Supermarkt. Vorbei am Obstregal mit exotischen Früchten, an der Fischtheke, wo Shrimps, ganze Lachse und Loup de Mer ausliegen. Inge holt für Alli einen Einkaufswagen, auf den sich die alte Dame stützen kann. Am Wurstregal holen sie Ulf ein. Der begutachtet gerade das Rauchfleisch, packt schließlich sechs eingeschweißte Stücke in seinen Korb.

    "Davon nehmen wir immer gleich mehrere mit. Das ist eine estnische Spezialität, die gibt es bei uns so nicht. Eines essen wir dann immer gleich, eins kommt in den Kühlschrank, die restlichen ins Tiefkühlfach."

    Ulf führt seine Mutter an der Kasse vorbei, wartet auf Inge, die zahlt. Gemeinsam gehen sie zur Rolltreppe, fahren in den zweiten Stock. Inge deutet auf ein Schuhgeschäft. Ulf verzieht das Gesicht.

    "Du wolltest doch mal nach Schuhen gucken, zu Hause findest Du doch immer keine."

    Widerwillig betritt Ulf den Schuhladen, geht zu einem Regal mit schwarzen Herrenschuhen Größe 45. Er wirft einen Blick auf die Preisschilder - 1000 estnische Kronen, umgerechnet mehr als 60 Euro. Dann nimmt er ein Paar in die Hand, geht zur Kasse, spricht die Verkäuferin an.

    "Wir suchen schwarze Lederschuhe, Größe 45. Meinen Sie, dass mir die hier passen könnten?"

    Die Verkäuferin blickt ihn ratlos an. "Ja, Größe 45", antwortet sie. Doch weiter kommt sie mit ihrem Finnisch nicht, wechselt ins Englische. Ulf stellt die Schuhe wieder ins Regal. "Für den Preis kriegen wir die auch in Helsinki", meint er. Inge nickt.

    "Ich finde, dass die Alkoholpreise hier zwar bedeutend niedriger sind als bei uns in Finnland, aber alles andere ist mittlerweile fast genauso teuer geworden. Die Preise sind unerhört gestiegen. Als wir anfangs hierher kamen, da war alles wirklich sehr günstig. Aber jetzt erreichen wir allmählich finnisches Niveau hier."

    "Ja, die Inflation liegt ja in Estland derzeit bei über zehn Prozent, und das bedeutet, dass sie hier früher oder später finnisches oder skandinavisches Niveau erreichen werden, was die Kosten betrifft."

    Doch auch wenn es hier bald so teuer sein wird wie in Helsinki: Inge und Ulf werden auch dann regelmäßig mit der Fähre nach Tallinn kommen. Schließlich könne man hier nicht nur shoppen, sondern auch die Staatsoper besuchen, die weit über die Landesgrenzen hinaus einen exzellenten Ruf genieße, erklärt Ulf.

    "Für uns ist Estland seit der Unabhängigkeit unsere zweite Heimat geworden. Es ist so nah, hier kann man Finnisch sprechen, und das Land hat sich konsequent an uns angenähert. Zu Sowjetzeiten fühlte es sich wirklich so an, als sei Estland sehr weit weg von Finnland, damals brauchte man ein Visum, und man merkte in Finnland kaum, dass es Estland überhaupt gab. Aber jetzt fahren unzählige Fähren jeden Tag zwischen Tallinn und Helsinki hin und her, und auch das Straßenbild ist ähnlicher als früher. Tallinn ist es jetzt viel westlicher, und jetzt kann man sagen, dass Estland wie ein zweites Finnland ist. Kein Wunder: Obwohl wir zwei verschiedene Länder sind, singen wir unsere Nationalhymnen auf dieselbe Melodie."

    Die estnische Schriftstellerin Eeva Park nimmt ihre Landsleute und deren Verhältnis zu Finnland gern "auf die Schippe". So auch in der Geschichte "Jenseits von Acheron". Sie spielt zur Sowjetzeit. Damals reisten Intellektuelle aus Finnland ab und zu nach Estland. Die Kontakte wurden misstrauisch vom KGB beäugt. Dass sie ihre estnischen Gastgeber in Gefahr bringen könnten, war den meisten Finnen jedoch nicht klar.



    "An der Straßenecke schlug das Mädchen den Weg nach Hause ein. Aus einem Garten stieg der Duft nach frisch gemähtem Gras auf. Sie lachte, als sie diesen Duft in sich aufnahm, ihr Pfeifen wurde um eine Spur lauter und tönte weit durch das ruhige Wohnviertel am Rand von Tallinn. In der eigenen Straße angekommen, verlangsamte sie ihr Tempo. Die Gegend war still und leer. An ihrem eigenen Gartenzaun stand ein fremder "Wolga" mit offenen Türen. Auf dieser ruhigen Straße waren Schritte schon von weitem zu hören, und das Mädchen hatte wieder angefangen zu pfeifen, aber diesmal kamen die Pfiffe mechanisch. Auf der Höhe des Autos angekommen, blieb das Mädchen stehen. In dem Wagen saßen vier stämmige Männer. Sie schwiegen und sahen weder einander noch das Mädchen an. Auf irgendeine Weise ähnelten sie sich alle. Alle waren gleich angezogen, fast so, als trügen sie eine Uniform, und ihre unbewegliche Haltung wäre dem Mädchen an jedem anderen Tag zwar vielleicht nicht unbedingt Angst einflößend, aber doch zumindest bedrohlich vorgekommen. Jetzt aber musste sie nur laut loslachen. Das alles erinnerte an einen billigen, schlecht gemachten Film, und es war so unwirklich und trotzdem real. Das Mädchen gelangte zur Gartentür, betrachtete forschend die Fenster des Hauses, blickte noch einmal zurück zum Auto und betrat dann das Haus.

    Alle Gäste waren längst eingetroffen. Der Duft nach Kaffee und Butterbroten und lautstarke Gespräche auf Finnisch drangen durch den Flur. Die Mutter ging über den Korridor in die Küche, und als sie ihre Tochter sah, sagte sie:
    "Da kommst du ja! Wenn man dich braucht, bist du wie vom Erdboden verschluckt. Wie eine streunende Katze ... Und wie siehst du bloß wieder aus! Zieh erst mal etwas anderes an, bevor du die Gäste begrüßt. Und was für eine alberne Frisur du wieder hast - ich kann dich einfach nicht verstehen.""

    Finnland ist inzwischen Estlands größter Außenhandelspartner: Fast 20 Prozent der estnischen Exporte und Importe werden mit dem nördlichen Nachbarn abgewickelt. Und auch immer mehr finnische Unternehmen entdecken den boomenden estnischen Markt als erstes Sprungbrett für eine Auslandsexpansion. Wichtige Wirtschaftszweige sind dabei Elektronik, Holzverarbeitung, Lebensmittel, Informationstechnologie und Tourismus. Die Angestellten sind meist Esten, das Führungspersonal stellen dagegen die Finnen. Auch wenn die Sprachen ähnlich sind und beide Länder viele Gemeinsamkeiten haben, ist der Geschäftsalltag vielfach noch von falschen Erwartungen, Missverständnissen und Unterschieden in der Unternehmenskultur geprägt.

    Unterschiede in der Unternehmenskultur - Eine finnische Restaurantchefin in Estland
    An der Rezeption des "Hotel Viru" in Tallinns Innenstadt stehen die Gäste Schlange zum Einchecken. Gleich drei Empfangsdamen notieren Passnummern, verteilen freundlich lächelnd die Zimmerschlüssel. Der Betonklotz aus Sowjetzeiten gehört zum finnischen Mischkonzern "S-ryhmä". Der hat das Gebäude komplett entkernt und zu einem der schicksten Hotels der Stadt gemacht. Auf den Designersofas in der lichtdurchfluteten Lobby sitzen Geschäftsleute und unterhalten sich leise miteinander. Eine Reisegruppe wartet auf ihren Bus. Mit schnellen Schritten geht Anna-Mari Parkatti an den Touristen vorbei. Die Restaurantchefin des "Viru" trägt wie alle leitenden Angestellten einen dunkelblauen Hosenanzug. Mit ihrem relativ breiten, hochwangigen Gesicht und ihren flachsblonden Haaren verkörpert sie das Klischee einer Finnin. Die 38-Jährige läuft die Treppe hoch in den ersten Stock. Gleich ist Mittagszeit, Anna-Mari muss sich um das Büffet im Restaurant kümmern.

    An der Bar, am Eingang zum Restaurant, bleibt sie stehen, spricht in fließendem Estnisch die Dienst habende Kollegin an. Zweisprachigkeit ist Voraussetzung, wenn man im "Viru" arbeiten will, sagt Anna-Mari.

    "Ein Problem ist, dass es in Estland immer weniger Leute gibt, die Finnisch können. Die Generation Dreißig plus hat damit kein Problem, aber die Jüngeren, die können es nicht. Sie lernen lieber Deutsch oder Englisch. Unsere Personalabteilung hat schon jetzt Schwierigkeiten, zweisprachiges Personal zu finden, denn finnische Kunden sind es gewohnt, dass man in Estland und vor allem in Tallinn, mit Finnisch zurechtkommt. Ganz so war es zwar auch früher nicht, aber diese Erwartung besteht."
    Anna-Mari arbeitet seit vier Jahren in Estland. Zuvor hat sie beim Mutterkonzern in Finnland ihre Ausbildung gemacht. Dann bot ihr Chef ihr den Posten in Estland an, sie zögerte nicht lange, lernte Estnisch und suchte sich eine Wohnung in Tallinn.

    Im Restaurant "Merineitsi" haben sich bereits die ersten Mittagsgäste eingefunden. Anna-Mari geht durch den großen Speisesaal, am Büffet bleibt sie stehen, schaut nach, ob von allen drei Gerichten noch genug vorhanden ist. Sie nickt zufrieden, geht durch die Hintertür in den Bürobereich, betritt das Arbeitszimmer des Küchenchefs.

    Der sitzt am Schreibtisch, beugt sich über den Sitzplan für das Bankett, das am Abend stattfinden soll. Anna-Mari erklärt den Zeitplan für die verschiedenen Gänge. Als ihr ein finnischer Ausdruck rausrutscht, schmunzelt sie. "Das passiert uns allen, Estnisch und Finnisch sind sich sehr ähnlich, aber die Wörter haben oft eine andere Bedeutung, da muss man aufpassen", sagt sie.

    "Neulich rief bei uns ein finnischer Kunde an. Er hatte eine Frage zu einer Rechnung, bei der die Summe nicht stimmte. Eine junge Estin in der Buchhaltung nahm ab und wollte sich auf Finnisch entschuldigen. Sie wollte sagen 'Ich bin wirklich untröstlich', aber so, wie sie sich ausdrückte, verstand der Finne 'Ich bin ein fürchterlicher Satan' und machte bestimmt erst mal ein dummes Gesicht."

    Anna-Mari bedankt sich bei ihrem Mitarbeiter, der steht eilig auf, schüttelt seiner Vorgesetzten die Hand. Ihre männlichen Kollegen haben kein Problem damit, einer Frau unterstellt zu sein - im etwas traditionelleren Estland keine Selbstverständlichkeit, sagt sie.

    "Wir haben auch eine weibliche Geschäftsführerin. In unserer Unternehmensgruppe gibt es viele Frauen in höheren Positionen. Ich glaube, dass ist ein typisches Phänomen für unser Unternehmen und für Finnland überhaupt. Es spielt einfach keine Rolle, ob jemand ein Mann oder eine Frau ist, sondern es geht um die Qualifikation. Ich hatte hier in Estland aber noch keine Probleme oder persönliche Schwierigkeiten. Mit Freundlichkeit geht alles."

    In der Großküche wird bereits das Gemüse für das Abendessen gewaschen, eine Köchin schrubbt Töpfe und Pfannen. Anna-Mari geht zu den riesigen Kühlschränken in der Ecke, öffnet die Türen, wirft einen prüfenden Blick auf die Waren. "Wenn ich nicht aufpasse, vergessen die Kollegen schon mal, genügend Eier fürs Wochenende zu bestellen, und hinterher will dann keiner daran Schuld sein", sagt sie.

    "Es mag an der Geschichte liegen, wenn man an die Sowjetzeit in Estland denkt, dass die Leute ungern Verantwortung übernehmen. Der Kundenservice in Restaurants und in Bars war zu Sowjetzeiten einfach nicht so vorhanden. Das könnte eine Erklärung sein. Wenn zum Beispiel irgendetwas nicht richtig läuft, irgendein Zeitplan oder irgendeine Frist nicht eingehalten wird, dann haben sie immer irgendeine Erklärung parat, und es sind immer sehr gute Erklärungen. Die Finnen sagen dagegen lieber schon vorher rechtzeitig Bescheid, wenn etwas nicht richtig läuft."
    Gegen 14 Uhr leert sich das Restaurant, die Kellnerinnen räumen das Büfett ab, die letzten Kunden zahlen vorne an der Bar. Mit einem strahlenden Lächeln bittet die Kassiererin um die Kreditkarte. Anna-Mari nickt zufrieden. "Das war hier anfangs keineswegs selbstverständlich", sagt sie.

    ""Estnisch hat oft einfach einen anderen Ton als Finnisch. Wenn man die Leute hier in den Geschäften etwas fragt, sagen sie bloß 'Gibt's nicht', während man in Finnland oder auch in den anderen nordischen Staaten eher eine Gegenfrage stellen würde, zum Beispiel 'Wie wäre es mit einer anderen Mineralwassermarke?' Man sucht dann nach Alternativen. In diesem Punkt besteht in der estnischen Gesellschaft durchaus noch ein gewisses Entwicklungspotenzial."

    Anna-Mari schließt die Tür des Veranstaltungssaals auf, begrüßt auf Estnisch eine junge Frau - die Organisatorin einer Tagung, die am Nachmittag im "Viru" stattfindet. Die ersten Teilnehmer betreten den Saal. Anna-Mari führt Small Talk mit der Organisatorin und strahlt dabei über das ganze Gesicht. Man sieht ihr an, dass sie ihren Job gerne macht. Als alle eingetroffen sind, geht Anna-Mari die Treppe hinunter, Richtung Nachtklub. Dort soll heute Abend eine Party stattfinden, sie muss nachsehen, ob die Bar ausreichend gefüllt ist. Vor 22 Uhr wird sie auch heute nicht Feierabend machen können. Dennoch: Sie möchte mit niemandem tauschen. Auch wenn sie in Finnland in der gleichen Position derzeit noch mehr verdienen könne, sie fühle sich im "Hotel Viru" zu Hause, sagt die Restaurantchefin - und die kleinen Kommunikationsprobleme machten den Job erst recht reizvoll.

    Einen Tagesausflug nach Estland zu machen oder gar hier zu arbeiten, das ist für viele Finnen heute selbstverständlich. Zu Sowjetzeiten war es dagegen mit viel Aufwand verbunden. Und wenn man dann endlich da war, fühlte man sich wie in einer fremden Welt. Ähnlich wie bei Ost- und Westdeutschen zu DDR-Zeiten waren auch die Zusammentreffen von Finnen und Esten vor der Wende nicht immer einfach.



    "Fast zwanzig Gäste waren versammelt, und alle schienen sich gut zu kennen. Als sie merkte, dass alle auf sie sahen, sagte sie auf Finnisch:
    "Ihr seid wirklich prominente Gäste! Eine solche Ehre ist uns wahrhaftig noch nie zuteil geworden, dass uns der KGB so demonstrativ und aufwändig beschattet."

    "Wer? Was?" fragten alle durcheinander.
    Die Mutter war in der Tür aufgetaucht und warf ihrer Tochter einen erschrockenen und zugleich vorwurfsvollen Blick zu. Als das Mädchen auf den "Wolga" hinter dem Gartenzaun zeigte, drängten sich alle sofort zu den Fenstern, reckten die Hälse und versuchten, durch die Zweige des alten Fliederbuschs einen Blick auf das graue Auto und die vier schweigenden Männer zu erhaschen.

    "Was redest du da", sagte die Mutter auf Estnisch. "Du jagst unseren Gästen ja einen Heidenschrecken ein."

    "Sie sitzen hier so blauäugig und fröhlich und glauben, dass sie schließlich gar nicht so weit weg von zu Hause sind. Es ist doch nur ein Katzensprung von Helsinki über den Finnischen Meerbusen hierher nach Estland! Aber ich wollte ihnen zeigen, dass sie in Wirklichkeit den Acheron überquert haben""

    Finnland gehört zu den wenigen alten EU-Mitgliedern, die ihren Arbeitsmarkt für die neuen EU-Staaten geöffnet haben. Bislang wurde diese Chance vor allem von Esten genutzt: Rund zehntausend arbeiten inzwischen allein im Großraum Helsinki. Die Abwanderung von qualifizierten Fachleuten hat in Estland allerdings inzwischen zu einem deutlichen Arbeitskräftemangel geführt. Das Ergebnis: Die Löhne und Gehälter sind deutlich gestiegen. In vielen Branchen rechnet es sich daher inzwischen finanziell kaum noch, das beschwerliche Pendeln auf Dauer auf sich zu nehmen. Viele Esten lockt jedoch die Aussicht, sich in Finnland weiter zu qualifizieren und für einen begrenzten Zeitraum neue Erfahrungen zu sammeln - bevor es dann wieder in die alte Heimat zurückgeht.

    Die Fachkräfte kehren zurück - Ein estnischer Feuerwehrmann in Helsinki
    Jeden Morgen nach Schichtbeginn gehen Villu Ojasoo und Henry Berlin als erstes in die Fahrzeughalle der Feuerwehr in Loviisa, einer Kleinstadt östlich von Helsinki. Beide Männer tragen Uniform: dunkelblaue Hose und Hemd, dazu schwarze feuerfeste Schuhe. Nun sind sie auf dem Weg in die Garage im Erdgeschoss. Dort stehen die beiden roten Löschwagen, die Türen geöffnet, die Schläuche ordentlich aufgerollt. Villu, breitschultrig, blonder Bürstenschnitt, steigt die Trittleiter zur hinteren Sitzreihe hoch, setzt sich. Sein Kollege Henry postiert sich hinter dem Steuer. Seit mehreren Monaten Alltag für Villu, der aus Tallinn stammt. Das finnische Innenministerium hatte ihm angeboten, im Nachbarland zu arbeiten und sich fortzubilden. Zunächst absolvierte er mit anderen estnischen Kollegen Theoriekurse. Auf der Wache in Finnland folgt jetzt die Praxis.

    "Estland hat eine Zeit des Umbruchs hinter sich. Früher gab es einfach kaum Spezialausbildungen für Fachkräfte. Bei der Feuerwehr musste man zu Sowjetzeiten zum Beispiel nach Moskau oder Leningrad gehen, um bestimmte Sachen zu lernen, und als Estland dann selbstständig wurde, gab es zu wenige Oberbrandmeister. Ich bekam dann ein Angebot über das finnische Innenministerium für eine eineinhalbjährige Ausbildung in Finnland an der Hochschule in Kuopio. Und da war ich dann zusammen mit zwölf anderen Landsleuten."

    Villu greift in die Konsole der Rückbank, nimmt ein Nachtsichtgerät heraus, schaltet es an. "Funktioniert", ruft er Henry auf Finnisch zu.

    "Ich habe Finnisch vor allem durchs Fernsehen gelernt. In den 70er Jahren kamen auf den finnischen Kanälen einfach die spannenderen Filme, in Tallinn konnten wir die ohne Probleme empfangen. Da las man dann die Untertitel mit und legte ein Wörterbuch daneben. Estnisch und Finnisch sind sich ja recht ähnlich, aber es gibt doch eine Menge Wörter, die was anderes bedeuten."

    Villu prüft die restlichen Geräte: Er schaltet das Funkgerät ein, setzt die Gasmaske auf, nickt zufrieden. Der Arbeitstag auf der Wache besteht vor allem aus Warten, doch für den Ernstfall muss alles bereit sein. Jede Schicht dauert 24 Stunden. Zweimal die Woche fährt Villu dafür mit der Fähre nach Helsinki, eine Wohnung hat er hier nicht, dafür steht ein paar Türen weiter ein Feldbett zum Ausruhen. Nach der Schicht geht es gleich wieder nach Tallinn, wo seine Frau und seine beiden Kinder leben. Nach zwei Tagen Pause geht es dann wieder rüber nach Finnland. Rund 2000 Euro Netto verdient er im Monat. Ein gutes Gehalt, findet der 38-Jährige. Wegen des Geldes habe er das Angebot jedoch nicht angenommen, sagt er, vielmehr aus Interesse am Nachbarland. Schließlich könne er in Tallinn inzwischen fast genauso viel verdienen.

    "Ich kenne viele Esten, die wie ich einfach mal aus ihrer Routine ausbrechen wollen. Das ist inzwischen der Hauptgrund, warum man nach Finnland geht. Natürlich sind die Löhne hier noch immer etwas höher. Aber Fachkräfte verdienen in vielen Branchen mittlerweile gleich viel, weil sie sonst niemanden finden, der den Job macht. Nur sind in Estland meist die Arbeitsbedingungen schlechter. Wenn man zum Beispiel auf einer Baustelle ist, dann sind Überstunden die Regel. Hier in Finnland fängt man morgens um acht an, lässt nachmittags um fünf den Hammer fallen, und das ist dann in Ordnung."

    Auch auf den Feuerwachen gehe es in Finnland eindeutig beschaulicher zu als in Estland. Dennoch ist für Villu klar: Lange will er nicht mehr pendeln, noch ein paar Monate Erfahrungen sammeln, dann geht es zurück nach Tallinn, obwohl man ihn hier gern behalten würde.

    Die Geräte funktionieren, der Kontrollgang ist beendet, Villu und Henry gehen zum Aufenthaltsraum. Jetzt heißt es: warten und Funksprüche abhören. Inzwischen sind noch zwei weitere Kollegen eingetroffen. Harry setzt sich an den großen runden Tisch in der Mitte des Zimmers, schlägt die Lokalzeitung auf. Villu kocht Kaffee, scherzt mit den anderen.

    "Ich würde sagen, dass Feuerwehrleute im Grunde überall auf der Welt ziemlich ähnlich sind, egal wo man auf eine Wache kommt, man findet immer eine gemeinsame Sprache. Ich habe schnell die Fachbegriffe für die Geräte und die Arbeitsaufgaben gelernt. Aber es gibt neben diesen Formalitäten auch die persönliche Ebene, und da gibt es schon Unterschiede zwischen uns. Die Finnen reden mehr und wollen alles immer ausdiskutieren. Aber ich finde das sehr angenehm."

    Henry Berlin legt die Zeitung zur Seite, schmunzelt. Er freut sich über das Lob. Villu ist der erste estnische Kollege, mit dem das Team auf der Wache zusammenarbeitet. Allerdings gibt es seit mehreren Jahren auf beiden Seiten immer wieder Austauschprogramme. Auch Henry war schon im Nachbarland zu Besuch. Und nun, seit Esten aufgrund der Arbeitnehmer-Freizügigkeit ohne Probleme in Finnland arbeiten dürften, sei es nicht nur in seiner Branche völlig normal, estnische Kollegen zu haben. Angst um seinen Job habe in Finnland deswegen allerdings kaum jemand. Die Zeiten, in denen Ausländer aus dem ehemaligen Ostblock jede Arbeit egal zu welchem Preis angenommen hätten, seien hier definitiv vorbei.

    "Der Wegfall der Grenze ist das Beste, was uns in den letzten Jahren passiert ist, dass sich die Leute frei ihre Arbeit suchen können, in Europa, in der EU, gegenüber früher erschließen sich viel größere Bereiche, wo man arbeiten und wohnen, sich einen bestimmten Job suchen kann, den man haben will, das ist eine tolle Sache, und es ist klasse, mit den ausländischen Kollegen zusammen zu arbeiten."



    Sie hörten Gesichter Europas: Zwei Länder, ein Ballungsgebiet - Europas neue Hauptstadtregion "Talsinki". Die Autoren der Reportagen waren Friederike Schulz und Berthold Forssman. Die Musik suchte Babette Michel aus. Sprecher der Literatur war Hendrik Stickan. Für Ihr Interesse dankt, auch im Namen von Ton und Technik, Norbert Weber. Ich wünsche Ihnen noch einen schönen Tag!