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Zwei Monate nach der Wahl
Schwierige Regierungsfindung in den Niederlanden

Mitte März wurde in den Niederlanden gewählt. Eine Regierung gibt es bis heute nicht. Der Rechtspopulist Geert Wilders würde gerne mit den Rechtsliberalen von Premier Mark Rutte eine Koalition bilden. Der aber möchte mit den Sozialisten ein Bündnis schmieden. Doch die wiederum wollen nicht mit Rutte. Die Regierungsbildung gestaltet sich aus vielerlei Gründen schwierig.

Von Kerstin Schweighöfer | 22.05.2017
    Die niederländische "Informateurin" Edith Schippers und Premierminister Mark Rutte treffen sich mit Mitgliedern verschiedener Parteien am 29. März in Den Haag.
    Blick in das Abgeordnetenhaus der Niederlande: Die Koalitionsverhandlungen gestalten sich hier äußerst schwierig. (AFP/Bart Maat)
    "Liebe Leute, es ist uns nicht gelungen.” Mit diesen Worten gab Edith Schippers, Regierungsbildungsbeauftragte und amtierende rechtsliberale Gesundheitsministerin der Niederlande, am 15. Mai das Scheitern der Koalitionsverhandlungen bekannt. Zwei Monate lang hatte sie versucht, aus Rechtsliberalen, Christdemokraten, Grünen und den progressiven D66-Demokraten ein Regierungsbündnis zu schmieden. Doch zu dieser sogenannten "Regenbogenkoalition” wird es nicht kommen:
    "Wir haben 18 Verhandlungstage lang sehr intensiv gearbeitet. Aber es reichte nicht, um die Kluft zu überbrücken. Die inhaltlichen Unterschiede sind schlicht und ergreifend zu gross – obwohl auch das Vertrauen gross war und die Atmosphäre gut. Die vier Parteien haben wirklich ihr Bestes gegeben, um zueinander zu finden. Aber beim Thema Einwanderungspolitik war die Hürde zu hoch.”
    Wirklich überrascht hat das Scheitern niemanden. Die Niederlande sind ein politisches Vielstromland und langwierige Koalitionsverhandlungen gewöhnt. Die längsten fanden 1977 statt und dauerten 208 Tage. In Europa waren die Niederlande sogar lange Zeit Rekordhalter: Nirgendwo dauerte es so oft ähnlich lange, bis eine Regierung zustande kam. Bis sich der Polderstaat 2011 von den Belgiern übertrumpfen lassen musste: Die brauchten nach den Wahlen 2010 541 Tage, also gut eineinhalb Jahre, bis sie wieder eine Regierung hatten. In Belgien liegt das in der Hauptsache am Sprachenstreit, der die Nation spaltet. In den Niederlanden an der zersplitterten Parteienlandschaft.
    Lange Verhandlungen ganz normal
    Im am 15. März neu gewählten niederländischen Abgeordnetenhaus müssen sich 13 Fraktionen 150 Sitze teilen. Denn das das niederländische Wahlsystem setzt auf Konsens, jede gesellschaftliche Strömung soll sich im Parlament wiederfinden. Deshalb kennen die Niederländer im Gegensatz zu Deutschland keine 5-Prozent-Hürde, die Messlatte für den Einzug ins Parlament. Folge: Für eine regierungsfähige Mehrheit braucht es in der Regel einen dritten, wenn nicht sogar einen vierten Koalitionspartner im Bunde. Und das braucht seine Zeit, so der Amsterdamer Politologe André Krouwel:
    "Koalitionsverhandlungen dauern bei uns mindestens drei bis hin zu sieben Monaten. Das finden wir ganz normal. Manchmal finden bis zu acht Verhandlungsrunden statt – ohne dass am Ende ein Kabinett zustande gekommen ist.”
    In den Niederlanden ist der Wähler schon lange nicht mehr nur einer Partei treu und bis kurz vor den Wahlen unentschlossen. Im Durchschnitt hat er zwei oder drei Parteien, die ihn besonders ansprechen. 40 Prozent der niederländischen Wähler entscheiden erst in der letzten Woche vor den Wahlen, wem sie ihre Stimme geben. Große Parteien gehören dadurch der Vergangenheit an. Es gibt nur noch mittelgroße Parteien, die sich mit 15 bis 25 Prozent der Stimmen zufrieden geben müssen. Kein Grund zur Sorge, findet Professor Krouwel:
    "Das mögen holländische Zustände sein, aber sie sind ein guter Puffer gegen Trump-artige Zustände: dass jemand Regierungschef wird, obwohl er weniger Stimmen bekommen hat als sein Kontrahent."
    VVD - nur noch eine mittelgroße Partei
    Auch der Sieger der Parlamentswahl vom 15. März, die rechtsliberale Regierungspartei VVD des bisherigen Premierministers Mark Rutte, ist nur noch eine mittelgroße Partei: Sie erreichte knapp 21 Prozent der Stimmen. Damit bleibt sie größte Fraktion im 150 Mandate starken Abgeordnetenhaus – wenn auch mit nur noch 33 statt bisher 41 Sitzen.
    Auf Platz zwei landeten die Rechtspopulisten von Geert Wilders mit 13 Prozent, dicht gefolgt vom christdemokratischen CDA und den progressiven D66-Demokraten, die gerne als Linksliberale bezeichnet werden, sich aber auf der rechten Seite des Parteienspektrums befinden. Eigentlicher Wahlsieger ist GroenLinks, wie die niederländischen Grünen sich nennen: Sie konnten die Zahl ihrer Sitze mehr als verdreifachen und landeten auf Platz 5.
    Der große Verlierer: die "Partei der Arbeit”, bislang Ruttes sozialdemokratischer Koalitionspartner. Sie stürzten ab auf nur noch 5,7 Prozent der Stimmen. Bei der Wahl im Jahr 2012 waren die Sozialdemokraten mit knapp 25 Prozent noch zweitgrößte Partei nach den Rechtsliberalen geworden. Nach nur 52 Verhandlungstagen - eine Ausnahme in der parlamentarischen Geschichte des Landes - ließen sie sich auf das Wagnis einer Koalition mit Ruttes VVD ein. Was sie teuer zu stehen kam: In den Augen vieler Wähler hatten die Sozialdemokraten damit ihre Ideale verraten und waren zu weit nach rechts gerückt. "Bitter und unglaublich enttäuschend”, kommentierte der sozialdemokratische Spitzenkandidat Lodewijk Asscher am Wahlabend das Ergebnis. Seitdem lecken die Sozialdemokraten ihre Wunden. Sie bereiten sich auf die Opposition vor und haben beschlossen, sich nicht an der Regierungsbildung zu beteiligen.
    Mark Rutte feiert seinen Wahlsieg vor Anhängern in Den Haag. Er steht auf einer Bühne vor dem organgefarbenen Emblem seiner Partei.
    Mark Rutte feiert seinen Wahlsieg vor Anhängern in Den Haag. (imago stock&people/Müller)
    Die begann direkt nach der Wahl mit der traditionellen Ernennung des sogenannten verkenners, zu deutsch etwa Späher. Das Parlament einigte sich auf Ruttes Parteigenossin Edith Schippers, die bisherige Gesundheitsministerin. Regierungsbildungsbeauftragte Schippers wusste, vor welcher schweren Aufgabe sie stand: Dass Wilders’ "Partei für die Freiheit” PVV bei dieser Wahl mit 13 Prozent nur zweitgrösste Kraft geworden ist, wurde vielerorts in Europa zwar mit Erleichterung zur Kenntnis genommen: Der Siegeszug der Populisten schien gestoppt. Immerhin hatten mit den Grünen und den D66-Demokraten gleich zwei ausgesprochen europafreundliche und progressive Parteien kräftig zugelegt, die sich darüberhinaus für eine liberale, humane Einwanderungspolitik einsetzen.
    Doch das Wahlergebnis spiegelt ein gespaltenes Land wider: Mindestens genauso stark ist das Lager der Europa- und Globalisierungsgegner sowie -skeptiker, die auf ein Schließen der Grenzen plädieren und eine strenge Einwanderungspolitik. Aus Angst, noch mehr Wähler an Wilders zu verlieren, haben auch Christdemokraten und Rechtsliberale in den letzten Jahren einen immer konservativeren Kurs eingeschlagen. Das hat ihnen das Prädikat "Wilders light” eingebracht.
    "Das ist doch hier kein Kindergarten"
    Welche Koalition würde diese Kluft am ehesten überbrücken und dem Wahlergebnis gerecht werden? Wer wäre überhaupt bereit, mit wem zusammen zu arbeiten? Um dies herauszufinden, traf sich Edith Schippers zunächst zu einzelnen Gesprächen mit allen Fraktionen. Die ersten, die in dieser Phase im politischen Abseits landeten, waren Geert Wilders’ Rechtspopulisten: Schon vor der Wahl war bis auf zwei Splitterparteien niemand bereit gewesen, mit der "Partei für die Freiheit” PVV eine Koalition einzugehen - zur grossen Empörung von Wilders. Während der ersten Sitzung des neuen Parlaments am 23. März ließ er seinem Frust freien Lauf:
    "Das ist doch hier kein Kindergarten. Wo das eine Kind weinerlich zum anderen sagt: ‘Du hast mich gehauen, mit dir spiele ich nicht mehr.’”
    Doch die erste Spielrunde – um in Wilders’ Duktus zu bleiben - fand ohne den Rechtsaußen der niederländischen Politik statt. Zwei Wochen nach der Wahl, am 29. März, setzte sich Schippers erstmals mit vier potenziellen Koalitionspartnern an einen Tisch: mit Ruttes Rechtsliberalen, den Grünen, Christdemokraten und D66-Demokraten. Alle vier hatten guten Willen bezeugt, sich trotz tiefer ideologischer Gräben zur Regenbogenkoalition zusammenraufen zu wollen. Denn egal, ob Umweltpolitik, Einkommensverteilung oder Arbeitsmarkt: In vielem stehen sich diese vier Parteien diametral gegenüber. Vor allem bei der Einwanderungspolitik. Das war einmal mehr während des Wahlkampfes deutlich beworden, als Premier Rutte mit Jesse Klaver, Spitzenkandidat und Fraktionsvorsitzender der Grünen, über das Türkei-Abkommen debattierte. Rutte ist stolz auf dieses von ihm mitverhandelte Abkommen, Klaver nicht:
    "Das ist der große Unterschied zwischen uns Grünen und den Rechtsliberalen. Ich bin nicht stolz darauf, dass 90 Prozent weniger syrische Flüchtlinge nach Europa kommen. Sie müssen in der Türkei um ihr Leben fürchten. Nach dem Zweiten Weltkrieg haben wir uns geschworen, niemals mehr Menschen im Stich zu lassen.”
    Mit anderen Worten: Wenn es nach Ihnen geht, haben wir hier zehntausende zusätzliche Flüchtlinge! Dazu ist die niederländische Gesellschaft außerstande, die Spannungen sind schon groß genug.”
    An was genau die Koalitionsverhandlungen nun gescheitert sind, darüber schweigen sich die Betroffenen aus. Doch dazu hält sich das gescheiterte Regenbogen-Quartett bedeckt. Keiner will Details preisgeben und dem anderen den Schwarzen Peter zuschieben. Damit würden sich die Verhandlungsführer in die Karten schauen lassen und Trümpfe aus der Hand geben, die sie für die nächste Verhandlungsrunde vielleicht noch brauchen würden. Nicht umsonst gelten Koalitionsverhandlungen in den Niederlanden als Strategiespiel auf höchstem Niveau.
    Jesse Klaver, der Vorsitzende der niederländischen GrünLinks-Partei, auf dem zu Sondierungsgespräch in Den Haag  (23.3.17)
    Jesse Klaver von der GrünLinks-Partei auf dem Weg zu Sondierungsgesprächen in Den Haag (AFP PHOTO / ANP / Jerry Lampen )
    "Kein schlechtes Wort über die anderen!” betonte der Frontmann der Grünen Jesse Klaver bei einem ersten Treffen mit Parteimitgliedern in Den Haag. Auch Premier Rutte, bekannt als Meisterstratege, ließ sich nicht aus der Reserve locken:
    "So etwas nennt man Verhandeln! Wir sind ein Land der Koalitionen, schon seit Jahrhunderten machen wir uns auf diesem Gebiet einen Namen. Zwischen Parteien gibt es immer grosse Unterschiede. Aber in diesem Falle ging es um SEHR große Unterschiede."
    Statt dessen betonten die vier Parteichefs wiederholt, der Bruch sei wirklich definitiv. Denn auch das hat es schon gegeben: Dass die Spieler der ersten Runde nach drei oder vier gescheiterten Folgerunden doch noch zueinander fanden. Weil die Zeit dann auf einmal reif war.
    Auf die potenziellen Teilnehmer der Zwischenrunden jedoch hat das eine abschreckende Wirkung. "Ich will kein Pausenclown sein!” brachte es ein Fraktionschef auf den Punkt. "Wir haben einen Punkt gesetzt und kein Komma”, versicherte Jesse Klaver von den Grünen. "Es war kein Spiel, es ist wirklich vorbei”, so Rutte.
    Paarungstanz beginnt von vorn
    Und so werden die Karten nun gänzlich neu gemischt. Das Karussel drehe sich wieder, wie es in den niederländischen Medien heißt, der Paarungstanz beginne erneut. An Stammtischen und in Talkshows werden alle möglichen Varianten durchgespielt. Und Regierungsbildungsbeauftragte Schippers hat sich als Verkenner, also als Späherin, ein weiteres Mal unverdrossen auf die Pirsch gemacht. Sie rief sämtliche Fraktionen auf, sich kompromissbereit zu zeigen und über ihre Schatten zu springen:
    "Das Land muss regiert werden, Wahlprogramme dürfen nicht heilig erklärt werden, sonst landen wir in einer Sackgasse. Es gibt noch genug Möglichkeiten."
    Die gibt es in der Tat. Aber, so seufzte ein Fernsehkommentator: Es sei wie mit der bekannten Ballade des beliebten niederländischen Chansonniers Ramses Shaffy: "De een wil de ander, maar de ander wil die ene niet” – "Der eine will den anderen, aber der andere will den einen nicht." Bestes Beispiel: Geert Wilders und Premier Rutte. Wilders will nur allzugerne mit Rutte eine Regierung bilden, aber Rutte will mit Wilders nicht – obwohl der Rechtspopulist nach dem Scheitern der ersten Runde im Parlament einen geradezu verzweifelten Appell an ihn richtete:
    "Jede andere Variante besorgt Ihnen dieselben Problemen, Herr Rutte! Nur mit uns können Sie eine strengere Einwanderungspolitik realisieren. Hier sitzen 20 Abgeordnete meiner Partei.Ja, schauen Sie gut hin! Winken Sie Ihnen ruhig zu! Da sitzen sie! Gewählt von 1,5 Millionen Wählern. Die müssen Sie endlich ernst nehmen, Herr Rutte – sonst geht wieder alles schief!”
    Doch Rutte blieb bei seinem Nee und erinnerte an sein erstes Kabinett, eine Minderheitsregierung aus Rechtsliberalen und Christdemokraten, die von den Rechtspopulisten geduldet worden ist, die Wilders dann aber 2012, nach nur zwei Jahren platzen ließ - mitten in einer schweren Wirtschaftskrise:
    "Wenn es schwer wird, darf ein Politiker nicht weglaufen, auch das braucht es für ein gutes Kabinett – und diesen Test haben Sie nicht bestanden, Herr Wilders. Bei Ihnen gehen die Parteiinteressen über die des Landes."
    Geert Wilders nach der Parlamentswahl in Den Haag
    Geert Wilders nach der Parlamentswahl in Den Haag (imago stock&people)
    Rutte selbst würde statt mit den Grünen gerne mit den Sozialisten eine Regierung bilden Doch die wollen nicht mit Rutte. Die würden Rutte und die Rechtsliberalen sogar am liebsten ins Abseits drängen, um zusammen mit fünf anderen Parteien ihren Traum von einer linken Koalition zu realisieren.
    Dass eine Partei, die als stärkste aus Wahlen hervorgegangen ist - aktuell Ruttes Rechtsliberale - in der Opposition landen, ist zwar selten, aber auch das hat es in den Niederlanden schon gegeben: 1977, als die Koalitionsverhandlungen 208 Tage dauerten – der bisherige Rekord. Die Wahl hatten damals die Sozialdemokraten gewonnen – doch der Premierminister, den das Land nach 208 Tagen bekam, war ein Christdemokrat: Dries van Agt. Mehr als fünf Monate lang hatten die Sozialdemokraten erfolglos versucht, sich mit den Christdemokraten zusammenzuraufen – woraufhin diese sich nach rechts orientierten, sich mit den Rechtsliberalen einigten - und Dries van Agt Ministerpräsident wurde. Denn, so erklärt der Amsterdamer Politologe André Krouwel:
    "In den Niederlanden gewinnt eine Partei mit dem Wahlsieg nicht automatisch das Recht zu regieren. Das ist das Schöne an unserer Konsens-Demokratie. Bei Wahlen gewinnt man lediglich das Recht, mitreden zu dürfen. Mehr nicht.”
    Christenunie als Zünglein an der Waage
    Am wahrscheinlichste gilt derzeit die Variante aus Rechtsliberalen, Christdemokraten, D66-Demokraten mit der Christenunie statt den Grünen. Diese strengcalvinistische Splitterpartei hat fünf der insgesamt 150 Sitze im Abgeordnetenhaus inne und könnte das Zünglein an der Waage spielen. Aber in Sachen Einwanderungspolitik vertritt die Christenunie grüne Standpunkte und mahnt unter der Berufung auf Bibelstellen zu Barmherzigkeit gegenüber Flüchtlingen. "Grün mit Bibel” wird diese Regierungs-Konstellation deshalb in den niederländischen Medien genannt. Sie hätte im Abgeordnetenhaus nur eine hauchdünne Mehrheit von 76 der 150 Mandate.
    Die Christenunie zierte sich zunächst, ist den Annäherungsversuchen Ende vergangener Woche aber erlegen. Doch jetzt sind es die progressiven D66-Demokraten, die sich querstellen: Hauptgrund sind ethische Fragen wie das geplante neue Organspendegesetz und die Liberalisierung des Sterbehilfeparagraphen. Beide Vorhaben gelten als Kronjuwelen der D66-Demokraten, die sie in einem Regierungsbündnis unbedingt durchsetzen wollen. Doch bei der Christenunie stossen sie damit auf Granit. Deshalb würden die D66-Demokraten statt der Christenunie am liebsten Sozialisten und die Sozialdemokraten an Bord holen, um eine Fünf-Parteien-Koalition zu realisieren.
    Schnell allerdings dürfte es auch in diesem Falle nicht gehen. "Jeder versucht, seine Haut möglichst teuer zu verkaufen”, weiß Dries van Agt, der christdemokratische Überraschungspremier von 1977. 208 Verhandlungstage musste er damals durchstehen. Rutte und Co. sollten sich wappnen, so van Agt:
    "Ich war froh, dass ich damals als Hobbyradrennfahrer eine ziemlich gute Kondition hatte! Wir waren alle todmüde, wir haben monatelang bis fünf Uhr morgens durchverhandelt. Es ist eine Art Wettkampf, wer den längsten Atem hat. Und mein Kontrahent konnte problemlos mithalten, obwohl er überhaupt nicht sportlich war! Der schien überhaupt keinen Schlaf zu brauchen!”
    Erinnerungen an die Belgier
    Dass die Niederländer noch vor der Sommerpause eine neue Regierung haben werden, daran mag so niemand mehr recht glauben. Und dann wird es knapp, um im September bei der Eröffnung des parlamentarischen Jahres, dem traditionellen prinsjesdag, die Haushaltspläne für das kommende Jahr zu präsentieren. Kein Grund zur Panik, findet Politologe André Krouwel und erinnert an die Belgier, die im Rekordjahr 2010 während der 541 Tage Regierungsfindungsphase einfach weiterlebten; die Wirtschaft blühte dort sogar auf:
    "Für Politologen sind das fantastische Zeiten. Und der Nation macht es nicht so viel aus, die kann gut mit einer Übergangsregierung leben. Wir stürzen nicht so schnell ein, auch wenn wir ein Jahr lang auf ein neues Kabinett warten müssen.”
    So weit, dass Neuwahlen ausgeschrieben werden mussten, weil kein Bündnis geschmiedet werden konnte, ist es in den Niederlanden noch nie gekommen.