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Zwei russische Dichter des Futurismus

Der Futurismus war für ValeriScherstjanoi von Anfang an ein Lebensmittel und ein Mittel des Widerstands. Jelissejewitsch Krutschonych lieferte mit "Phonetik des Theaters", eine Collage aus futuristischen Lautgedichten und theoretischen Texten zu ihrer Begründung. Zwei Rezensionen.

Von Joachim Büthe | 22.08.2011
    Ich sage mein Futurismus, wie ich mein Leben sagen kann. Bereits der erste Satz in Scherstjanois Buch macht deutlich, was von ihm zu erwarten ist: Keine grundlegend neue Erkenntnisse über den Futurismus, sondern ein anderer und höchst subjektiver Umgang mit ihm, geprägt von einer Lebensgeschichte, die sich in zwei gleich lange Kapitel aufteilt: dreißig Jahre Russland und dreißig Jahre Deutschland. Angefangen hat diese Verknüpfung von Futurismus und Leben im Alter von achtzehn Jahren und mit Majakowski. Die Legende vom großen proletarischen Schriftsteller, der sich gegen diese Zuschreibung nicht mehr wehren konnte, war schnell zerstört.

    "In der Bibliothek habe ich mir seine gesammelten Werke geliehen und dort habe ich dieses Gedicht gefunden, das wir in der Schule auswendig lernen mussten. Dann habe ich noch ein Gedicht entdeckt, das hieß "Mit voller Stimme", und es war das letzte Gedicht von Majakowski, die Einleitung zu einem großen Poem, das er nicht geschrieben hat, weil einige Monate danach hat er sich erschossen. Und in diesem Gedicht, diesem letzten Gedicht, das ich in der Schule 1968 vortrug, wurde ich von seinen offenen Worten überrascht. In diesem Text, wo er sich an die Menschen der Zukunft wendet, da fehlte ein Reim. (rezitiert auf Russisch) In dem russischen Buch, da waren Auslassungspunkte. Warum? Jetzt lese ich es auf Deutsch, was fehlte im sowjetischen Buch: "Durchwühlt ihr einst der Jetztzeit Kot-Petrefakt." Also auf Russisch heißt das einfach Scheiße. Und dann dachte ich, wieso schreibt der große revolutionäre Dichter, dass die Zeit Scheiße war? Und warum bringt sich der große proletarische Dichter ums Leben?"

    Der Futurismus war für Scherstjanoi von Anfang an ein Lebensmittel und ein Mittel des Widerstands. Ein Klang, der die Geräusche der Straße in sich aufnahm und schon deshalb verknüpft ist mit einem Leben, das nicht trennen kann zwischen den Wonnen der Poesie und den Zumutungen, denen die Poeten genau so ausgesetzt sind wie alle anderen. Alles geschieht gleichzeitig.

    "Alles ist da. Und Poesie und Lyrik, Liebesgedichte und die grausame Politik, und dann dazu noch das Schicksal meiner Mutter. Eine Frau, die aus Litauen stammt, und genau vor 70 Jahren, nur weil ihr Vater deutscher Abstammung war, ihre Mutter litauischer, und nur wegen ihres deutschen Vaters musste sie ihre litauische Heimat verlassen und dann abtransportiert nach Kasachstan."

    Dort ist Scherstjanoi aufgewachsen und von dort aus ist er, mit deutscher Ehefrau, in die DDR gekommen, mit seinem Futurismus im Gepäck.

    "Die Sowjets sind in Afghanistan einmarschiert und um die gleiche Zeit, das war im November 1979, bin ich nach Ostberlin einmarschiert. Ich wusste gar nicht, ich bin ausgebildeter Germanist, was mache ich in der DDR? Da ich mich schon damals fleißig mit Majakowski und Chlebnikov beschäftigte, wusste schon mehr vom Futurismus, habe ich zu mir gesagt und später meinem großen Freund Carlfriedrich Claus, ich will den Deutschen in der DDR über Majakowski, über den russischen Futurismus erzählen. Ich kam damals ins Erzgebirge nach Sachsen und nach zwei Monaten hatte ich schon meinen ersten Vortrag in der Galerie Oben in Karl-Marx-Stadt. Nach dem Vortrag habe ich dann ein russisches Gedicht vorgetragen. Damals schrieb ich Gedichte auf Russisch. Und die Leute, die nichts verstanden haben, haben dieser Rezitation begeistert zugehört. Dann dachte ich, es geht doch um die Form. Man kann so gut vortragen, dass die Leute, die diese Sprache nicht verstehen, zuhören. Das war der Anfang in Richtung Lautpoesie. "

    "Mein Futurismus" ist das bisher umfangreichste Buch Scherstjanois. Es trägt verstreut publizierte Texte zusammen und ergänzt sie, zum Beispiel durch die autobiografische Skizze "30 Jahre Deutschland", und rundet sie ab mit seinen scribentischen Zeichnungen. Diese verweisen direkt auf seine lautpoetische Vortragskunst, denn sie sind auch Notationen, die allerdings nur ihr Urheber versteht und die sich im Vortrag ständig verändern.

    "Im Zustand der Begeisterung, entweder mache ich Tonbandaufnahmen oder ich schreibe schnell in dieser scribentischen Sprache, die ich dann jederzeit ins Russische oder ins Deutsche übertragen kann. Jedes Zeichen hat in erster Linie mit Artikulation zu tun. Ich sehe ein Zeichen, ich weiß das ist [liest das Zeichen: dlll]Es ist ein Chaos. Wie ich das lese, von links nach rechts, von rechts nach links, da ist egal. Was ich jetzt vorgetragen habe, das ist auch nur eine einmalige Sache."

    Die scribentischen Notationen wären vermutlich ohne die Anregung durch die Sprachblätter von Carlfriedrich Claus nicht entstanden und doch haben sie eine völlig andere Funktion. Sie verweisen nicht auf Gedankenwelten, sondern auf den spontanen Akt der Artikulation. Ähnlich verfährt er mit den historischen Futuristen, die er wie Zeitgenossen befragt und so zu lebendigen Lehrern werden lässt. Scherstjanoi arbeitet daran, die Zeit aufzubrechen, ihr die Linearität zu nehmen. Insofern ist er nicht nur, wie Michael Lentz in seinem Nachwort schreibt, der letzte Futurist, sondern auch der erste der Gegenwart.

    "Jetzt bin ich bei Alexej Krutschonych, dem Vater der russischen Lautdichtung. Er hat nämlich gesagt: Gedanke und Rede reichen an das Erlebnis der Inspiration nicht heran. Die Komposition entsteht spontan, total unbewusst. Wenn man sie bewusst machen will, muss man sie aufschreiben. Aber wenn ich das aufschreibe, dann heißt das, es ist alles vorbei."

    Der kleine Essay über Krutschonych in diesem Buch ist zugleich das Nachwort zu einem anderen Buch, das ein paar Wochen früher erschienen ist. Scherstjanoi hat Krutschonychs "Phonetik des Theaters", eine Collage aus futuristischen Lautgedichten und theoretischen Texten zu ihrer Begründung, herausgegeben und übersetzt. Die Gedichte, die unübersetzbaren, sind hier in Lautschrift wiedergegeben, nur durch lautes Lesen kann man eine Vorstellung von ihnen bekommen, obwohl es schier unmöglich sein dürfte, Scherstjanoi in dieser Disziplin zu übertreffen. Er ist ein Glücksfall, der nicht nur Gegenwart und Vergangenheit zusammenbindet, sondern auch zwei Kulturen, zusammengehalten von zwei Hausgöttern, Majakowski und Carlfriedrich Claus.

    "Zwei Leuchttürme würde ich sagen und 'majak', das weiß man nicht, wenn man nicht russisch kann, das ist Leuchtturm, aber das war kein Künstlername, ich höre sofort den Wortstamm seines Eigennamens, das ist ein großer Leuchtturm und der zweite ist Carlfriedrich Claus. Ich habe wirklich Glück gehabt, dass Carlfriedrich Claus aus dem Erzgebirge stammte wie meine Ehefrau. Zwei große Leuchttürme, die bleiben, mein Leben lang, ein Russe und ein Deutscher."

    Valeri Scherstjanoi: Mein Futurismus. Mit einem Nachwort von Michael Lentz, Matthes & Seitz Berlin, 191 Seiten, broschiert 14,90 Euro
    und
    Alexej Krutschonych: Phonetik des Theaters. Herausgegeben von Valeri Scherstjanoi, Reinecke & Voss Leipzig, 79 Seiten, Paperback 10,00 Euro