Mittwoch, 24. April 2024

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Zweideutigkeiten. Essays und Skizzen

"Die Lust an der Peinlichkeit: Geschichten vom Geld". So heißt der vorletzte der in diesem Buch versammelten Essays und Skizzen. Die Kunst folgt dem Brot, so weiß es eine alte Volksweisheit, und natürlich muss die Kunst bezahlt werden, obwohl andererseits die Kunst, das wissen nicht zuletzt kommerziell erfolgreiche Künstler, mit Geld nichts zu schaffen hat. Das ist nur eine der Zweideutigkeiten, denen Brigitte Kronauers Buch den Titel verdankt und beileibe nicht die wichtigste. Sie sei hier nur erwähnt, weil Sammelbände dieser Art, die verstreute, nicht zuletzt aus Gründen des Broterwerbs mehr oder minder lustvoll verfasste Texte, zusammentragen, häufig die Grenzen der Peinlichkeit zumindest berühren. In diesem Fall ist es anders. So erfrischend es ist, wenn Brigitte Kronauers Texte auf den Seiten der Feuilletons auftauchen und sich der Logik der kurrenten Serien und Debatten verweigern, so erhellend ist es, sie im Zusammenhang zu lesen und die Linien zu verfolgen, die sie zusammenhalten ohne sich zu Thesen zu verdicken.

Joachim Büthe | 05.02.2003
    Wie modern muss Literatur sein? Auch auf diese Frage gibt es keine eindeutige Antwort. So notwendig und anregend die Aufräumungsarbeiten eines Helmut Heißenbüttel oder eines Michel Butor gewesen sind; Schreibprogramme versperren auch die Sicht auf Autoren, deren ambivalente Kraft sich anderen Sichtweisen und Techniken verdankt. Wie man die gesamte Literatur und mit ihr die Welt neu anschaut, damit sie wieder zu sprechen beginnt, führt Brigitte Kronauer in ihren literarischen Essays vor, in denen es keinen Widerspruch gibt zwischen kühler Analyse und emphatisch-empathischer Begeisterung. Und manchmal, vielleicht als Konzession an das geschätzte diskursive Publikum, liefert sie sogar eine These:

    Literatur bietet Bilder an, in denen sich, was wir in Begriffen abgelegt haben, wieder konkretisiert und in die neue, noch diffuse Empfindungen einmünden können, Formen, in die wir uns, im besten Fall mit Körper, Herz, Verstand wenigstens vorübergehend hineinbegeben, die sich in uns hereinbegeben, beides zu erheblicher Lebenssteigerung und also Lebenserhellung.

    Ja, Brigitte Kronauers Bücher sind Lebenshilfen oder besser Lebensmittel, gerade weil man in ihnen, was man schwarz auf weiß besitzt, nicht getrost nach hause tragen kann. Ein vorhersehbares Leben und Schreiben trägt das Moment der Agonie schon in sich, obwohl sich, mit zunehmender Reife und Routine eine gewisse Vorhersehbarkeit schon einstellt. Das macht die Zweideutigkeit, das rätselhaft glimmende Erotisierende von Joseph Conrads Figur Lord Jim, das Brigitte Kronauer wahrnimmt, umso kostbarer. Dass Lesen etwas mit Sinnlichkeit zu tun hat, ist passionierten Lesern nichts Neues, und dass die Krisen, die im Mund vermodernden Worte, kein Privileg der Moderne sind, weiß Brigitte Kronauer. Sie schreibt dem Pferd von Hofmannsthals Lord Chandos:

    Dein guter Chandos, Rösslein, macht, und sei es auf Biegen oder Brechen, die unerlässliche und keineswegs gefahrlose Krise eines jeden ernstzunehmenden Künstlers durch. Ein Schock, erst recht, wenn er bis dahin Wunderkind und -jüngling war! Was einmal allzu schmiegsam von der Hand ging, als würde die Welt von ihrer Artikulation als einer Art Emulsion umschlossen, stellt sich heraus als befristetes Geschenk. Dauerte es länger, würde es schimmeln und Stockflecken kriegen. Das wie geschmiert funktionierende Vertrauensverhältnis zwischen Ich und Sprache und Ding muss sich eben irgendwann zersetzen, damit aus souverän und mit großem Kunstverstand verwalteten Erbschaften neue, persönliche Eigentumsverhältnisse entstehen.

    So ist es, und schon entweicht der Feuilleton-Debatte über einen der Schlüsseltexte der Moderne laut pfeifend die Luft. Dass sich dieser Brief ausgerechnet an das Pferd des Lords wendet, ist jedoch weder eine Form der Missachtung noch ein Akt der Willkür. Die Natur, das Wald- und Wiesenstück als portable Heimat, die man überall finden kann, in der man sich auflösen und wiederfinden kann, spielt eine tragende Rolle in Brigitte Kronauers Welt- und Wirklichkeitslehre. Ross, wir verstehen uns? So lautet die keineswegs bange Frage am Ende ihres Briefes. Denn das kann man natürlich nie wissen, genau so wenig, wie es uns gegeben ist, Pferde und andere Tiere wirklich zu verstehen. Und gerade deshalb sind sie so wichtig für uns. Es ist das Fremde, Unauslotbare bei diesen so nahen Verwandten, das eine andere Form der Aufmerksamkeit und Zuwendung hervorholen kann. Sie gleicht der noch vorbegrifflichen, sinnlichen Empfindungswelt der Kinder einerseits und der Faszination der erotischen Begegnung andererseits. Brigitte Kronauer zitiert Canetti: Ich kannte ihn noch, wie er aus lauter schönen Tieren bestand. Jetzt ist er zum Schachtelhalm herangewachsen. Gegen diese Form der Verdorrung ist zwar nicht der Schachtelhalm, aber manch anderes Kraut gewachsen. Eines davon heißt Literatur.

    So thesenhaft verkürzt geht es bei Brigitte Kronauer nicht zu. Vielleicht sind die schönsten der im Buch versammelten Texte ihre Kolumnen, in denen sie an kein Thema gebunden ist. Doch alle Texte sind beseelt von dem Willen, sich mit der Armut der Eindeutigkeiten nicht abzufinden, und in den literarischen Essays schart sie die Verbündeten um sich. Eine davon heißt Lou Andreas-Salomé. Was sie an ihr rühmt, ließe sich auch über dieses Buch sagen. Tauschen Sie einfach die Namen aus.

    Die geniale Leistung der Lou Andreas-Salomé, besteht sie nicht in einer widersprüchlichen Gleichzeitigkeit? Beziehungsweise in einem, in ihren Werken jederzeit nachzuspürenden Akrobatenstück des Auf- und Absteigens oder gelenkigen, sich wechselseitig befruchtenden und kritisierenden Hin- und Herspringens zwischen allzeit präsenter Kindlichkeit und allzeit gegenwärtiger Rationalität, Hin- und Herwenden der Medaille der eigenen Existenz? Hier unersättliche intellektuelle Unterscheidungsgier, dort narzisstische Glückseligkeit der Identität von Innen und Außen, Einschmelzen von Ich in Welt und Welt in Ich, Aufsuchen unserer allerersten und dauerhaftesten Heimat nach den rechthaberischen Abmagerungskuren der Verstandestätigkeit.