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"Zweistaatenlösung jetzt, oder die Chance wird vertan"

Die Politikwissenschaftlerin Helga Baumgarten hält den palästinensischen Antrag auf UNO-Vollmitgliedschaft im Grundsatz für richtig. Palästina suche die Hilfe der internationalen Gemeinschaft für eine Zwei-Staaten-Lösung, weil die USA Israel unterstützten.

Helga Baumgarten im Gespräch mit Dirk-Oliver Heckmann | 27.09.2011
    Dirk-Oliver Heckmann: Der Applaus war gewaltig vergangenen Freitag in der UNO-Vollversammlung, als Palästinenserpräsident Mahmud Abbas seinen Antrag auf Vollmitgliedschaft bei den Vereinten Nationen in die Höhe hielt. Doch darüber, ob die Palästinensergebiete als Staat anerkannt werden oder nicht, hat letztlich nicht die Vollversammlung zu entscheiden, sondern der Sicherheitsrat mit seinen fünf Vetomächten und da hatten die USA bereits ihre Blockade angekündigt. Gestern befasste sich das Gremium mit dem Thema und vertagte sich wie erwartet auf morgen. Dazu begrüße ich am Telefon Helga Baumgarten, sie ist Politikwissenschaftlerin an der Birzeit-Univerzität in Ramallah. Guten Morgen!

    Helga Baumgarten: Einen schönen guten Morgen.

    Heckmann: Frau Baumgarten, der Antrag von Mahmud Abbas, ist der also völlig sinnlos, nur ein PR-Gag der Palästinenser gewesen?

    Baumgarten: Nun, ich denke, für Mahmud Abbas und für die Palästinenser generell ist das mit Sicherheit kein PR-Gag gewesen. Für Mahmud Abbas steht nicht zuletzt seine Legitimität als palästinensischer Präsident auf dem Spiel. Mahmud Abbas hat den Verhandlungsprozess der Osloer Jahre seit '93 angeführt und er hat in den Augen der palästinensischen Gesellschaft in diesem Verhandlungsprozess überhaupt gar nichts erreicht. Die Palästinenser haben verhandelt, die Israelis haben ihre Siedlungen expandiert und wir haben inzwischen im Westjordanland und Ostjerusalem eine halbe Million israelische Siedler, sind also weit entfernt von der Möglichkeit, eine Zweistaatenlösung durchzusetzen. In dem Sinne war der Schritt von Mahmud Abbas weg von den bilateralen Verhandlungen mit Israel, die nichts gebracht haben außer neuen Siedlungen, unter der Vermittlung der USA, die sich voll und ganz auf die Seiten Israels gestellt haben, ein Schritt hin zur internationalen Gemeinschaft, die ja immer die Zweistaatenlösung in den letzten Jahren voll und ganz unterstützt hat, mit der Aufforderung, mit bilateralen Verhandlungen können wir nichts erreichen, haben wir nichts erreicht, jetzt ist es an der internationalen Gemeinschaft, uns zu unterstützen.

    Heckmann: Aber, Frau Baumgarten – Pardon, wenn ich da einhake -, die USA sagen und auch das Nahostquartett, Frieden könne es nur geben durch direkte Verhandlungen zwischen allen Beteiligten, das heißt also, wenn alle Beteiligten an einem Tisch sitzen, also auch Israel.

    Baumgarten: Nun, die Erfahrung der Palästinenser ist, wenn Israel und Palästinenser am Tisch sitzen, dann wird endlos geredet, während in der Realität, im täglichen Leben vor Ort, die Israelis siedeln. Das heißt, Israel, speziell Netanjahu, hat sich als nicht bereit gezeigt, auch nur die geringste politische Konzession gegenüber den Palästinensern zu machen. Er hat aber intensiv vor Ort im Westjordanland und in Ostjerusalem gesiedelt. Das ist der Punkt, wo die Palästinenser und speziell ihr Präsident Mahmud Abbas argumentieren, wir können auf dieser Ebene nicht mehr weiter verhandeln, wir brauchen internationale Unterstützung. Das heißt, die Verhandlungsoption ist voll und ganz aufrecht erhalten von den Palästinensern, aber sie sind der Meinung, die amerikanische Vermittlung ist keine Vermittlung, sondern eine Unterstützung der Israelis und wir brauchen jetzt das Eingreifen der internationalen Gemeinschaft.

    Heckmann: Sie sagen, die Verhandlungsoption liegt weiter auf dem Tisch, auch vonseiten der Palästinenser. Aber die lehnen ja weitere Verhandlungen ab und stellen Vorbedingungen, nämlich das Ende der Siedlungstätigkeit.

    Baumgarten: Nun, ich meine, sie stellen eine ganz klare Vorbedingung, Ende der Siedlungspolitik, denn wenn wir noch zwei, drei Jahre Siedlungspolitik haben, gibt es nichts mehr, worüber die Palästinenser mit den Israelis verhandeln könnten. Und genau das ist ja die Strategie, die diverse israelische Regierungen seit '93 sehr intensiv verfolgt haben. Von daher gibt es, glaube ich, niemand, der ernsthaft die Zweistaatenlösung unterstützt, der die Palästinenser in dieser Forderung nicht auch voll und ganz unterstützen würde und sollte.

    Heckmann: Sollte im Sicherheitsrat über den Antrag der Palästinenser abgestimmt werden in den nächsten Tagen oder Wochen, was hätte das für Folgen, wenn die Amerikaner ihr Veto einlegen würden?

    Baumgarten: Nun, die Palästinenser setzen darauf, dass sie mindestens neun Stimmen für ihren Antrag erhalten. Selbst wenn die Amerikaner dann ihr Veto einlegen, was sie tun werden, gäbe es dann die Möglichkeit, an die UN-Vollversammlung zu gehen und dort zumindest einen besseren Status für die Palästinenser zu erhalten. Ich denke aber, das wäre zumindest meine Interpretation, dass die Palästinenser sich sehr wohl bewusst sind, dass sie konkret vor Ort kaum etwas erreichen können mit diesem Schritt. Sie können aber international auf die Misere im Lande hinweisen und rechnen sich zumindest eine Option aus, dass es intensivere Unterstützung von außen gibt für die Möglichkeit der Durchsetzung einer Zweistaatenlösung.

    Heckmann: Aber weckt Abbas damit nicht Erwartungen, die er nicht erfüllen kann, und treibt er die Palästinenser dann am Ende nicht doch in die Arme der Radikalen dadurch?

    Baumgarten: Das denke ich nicht. Ich denke, er nimmt sie gerade aus den Armen der Radikalen heraus, denn gerade auch auf israelischer Seite haben verschiedene Gruppen darauf hingewiesen, wenn jetzt die Chance für die Umsetzung einer Zweistaatenlösung vertan wird, dass das die letzte Chance war. Dann gibt es wirklich nur noch eine Option, nämlich die eines Staates, wie immer wir ihn nennen wollen. Momentan ist das der Staat Israel, der ja dieses ganze Territorium beherrscht. Und dann stellt sich die Frage, wird dies ein demokratischer Staat sein, der allen Bürgern, die dort leben, allen Menschen, die dort leben, alle Bürgerrechte gewährt, oder wird es ein wirklicher Apartheidsstaat werden, also genau das, was Jimmy Carter in seinem Buch über Israel beschrieben hat. Es geht tatsächlich um diese Option, Zweistaatenlösung, und die unterstützt Abbas voll und ganz. Von daher nimmt er Extremisten im palästinensischen Lager wirklich den Boden unter den Füßen weg. Aber es muss eine Reaktion aus Israel kommen, es muss eine Reaktion aus den USA kommen. Auch dort ist ja die Kritik an der Politik Obamas sehr groß, eben genau mit dem Hinweis darauf, es gibt nur zwei Möglichkeiten, Zweistaatenlösung jetzt, oder die Chance wird vertan, dann wird es eine Einstaatenlösung sein und dann geht es darum, volle Bürgerrechte für alle Menschen, die dort leben, durchzusetzen, und das wären dann in etwa die Hälfte jüdische Israelis und die andere Hälfte Palästinenser.

    Heckmann: Das Nahostquartett fordert ja sofortige neue Verhandlungen, bis Ende nächsten Jahres soll es eine Friedenslösung geben. Ganz kurz, Frau Baumgarten: Geben Sie diesem Plan eine Chance?

    Baumgarten: Nein, eigentlich gar keine, denn wir haben immer wieder diese Ankündigung gehabt, bis im nächsten Jahr, bis in zwei Jahren wird alles zu Ende geführt, und alles, was zu Ende geführt wurde, sind der Bau neuer israelischer Siedlungen.

    Heckmann: Die Politikwissenschaftlerin Helga Baumgarten war das live aus Ramallah. Frau Baumgarten, ich danke Ihnen für das Gespräch, und für die schlechte Tonqualität bitte ich um Verständnis.

    Äußerungen unserer Gesprächspartner geben deren eigene Auffassungen wieder. Deutschlandradio macht sich Äußerungen seiner Gesprächspartner in Interviews und Diskussionen nicht zu eigen.

    Deutschlandradio Aktuell vom 22. September 2011: Abbas beharrt auf UNO-Mitgliedschaft Palästinas