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Zweiter Roman von Ciriez
Eine detailtreue Milieubeobachtung

"Auf den Straßen von Paris" heißt der zweite Roman des Franzosen Frédéric Ciriez, der erst mit 37 Jahren seinen Erstling veröffentlichte. In dem dreiteiligen Werk stellt er Menschen gegenüber, die eine fast gegenseite Auffassung davon haben, was eine gute Arbeit ausmacht. Dabei ist es dem Autor anzumerken, dass seine ganze Sympathie den weniger Privilegierten der französischen Gesellschaft gilt.

Von Sigrid Brinkmann | 16.11.2015
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    In seinem Werk porträtiert Fréderic Ciriez auch einen Mann, der in der Woche einen Müllwagen fährt und am Wochenende den Snob gibt. (Julian Stratenschulte/dpa)
    Frédéric Ciriez kennt das Viertel "Bonne nouvelle", das an die Bahnhöfe Gare du Nord und Gare de L'Est stößt, wie seine Westentasche. Man winkt ihm aus Läden zu, grüßt ihn auf der Straße, hält ihn an, um ihn noch schnell mit ein paar Neuigkeiten zu füttern. Und Frédéric Ciriez wirkt auch so, als sauge er permanent, ganz Auge und Ohr, alle Veränderungen in seiner Umgebung auf. Er ist ein rasend schnell sprechender, sprühender Geist. In Paris lebt er seit 15 Jahren. Er findet, dass die Stadt immer afrikanischer wird. Und nirgendwo in Europa leben mehr Chinesen als in Paris. Also war es für ihn folgerichtig, einen Afrikaner und die Tochter chinesischer Immigranten zu Protagonisten seines dreiteiligen Romans zu machen. Teil Eins widmete Ciriez einem weißen Handwerker.
    "Anfangs war mein Buch allein von dem Wunsch getragen, mich vor einem Kumpel zu verbeugen, der sich umgebracht hat. Die Umstände seines Todes habe ich nicht erfunden. Mein Freund war als Techniker viel im Pariser Raum unterwegs, immer da, wo man gerade Hilfe brauchte. Und er war Gewerkschafter. Ich beschreibe, wie er im 14. Arrondissement die Treppen zum Gewerkschaftsbüro hochsteigt und dabei ein paar Models begegnet, die im selben Haus für die Agentur "Élite" arbeiten. Es gibt dieses Haus. Hier die Mode, Geld und Luxus, dort der kleine Arbeiter, ein Bretone, den es nach Paris verschlagen hatte und der vor Einsamkeit zugrunde ging. In seinem Scheitern ist er ganz eins mit sich. Die letzten Tage seines Lebens ist er herumgefahren, um den Wagen dann in der Abenddämmerung vor einer Müllverbrennungsanlage abzustellen und sich ein Messer ins Herz zu rammen."
    "Ich wollte eine Gestalt kreieren, die für mich den Liberalismus verkörpert"
    Frédéric Ciriez' Freund tötete sich am Vorabend des 1. Mai. Unfähig, weiter an das Band einer internationalen Solidarität der Werktätigen zu glauben, war seine Selbsttötung wenige Stunden vor dem weltweiten Feier- und Demonstrationstag ein letzter Akt des Protestes. Für diesen Freund auf verlorenem Posten erfand Ciriez einen Gegenpart in Gestalt einer Wirtschaftsstudentin. Deren Eltern sind aus China eingewandert. Anders als diese will sich die 21-Jährige nicht mit der Aussicht auf ein Leben in bescheidenem Wohlstand begnügen. Ihr Ziel ist klar definiert: Mit 30 will sie Millionärin sein.
    "Ich wollte eine Gestalt kreieren, die für mich den Liberalismus verkörpert; jemand, der sich bewusst abkoppelt von dem, was wir unter Arbeit verstehen. Meine Figur ist ein Körper in Bewegung. Sie flitzt auf Rollschuhen durch die Stadt und verkauft Touristen Souvenirs und Sonnencreme, Feuerzeuge und jede Menge Ramschartikel. Alles, was sie will, ist möglichst viel Geld verdienen und ein Business aufziehen. Andernfalls lohnte sich für sie das Leben nicht. Aber so eine Haltung ist letztlich auch eine Art, sich umzubringen.
    Wenn Ciriez' Protagonistin meint, es diene dem Geschäft, nutzt sie ihr asiatisches Aussehen und spielt die radebrechende, bedürftige Immigrantin. Die Kundschaft verzichtet dann leichter auf das Wechselgeld. An guten Tagen macht die Studentin 2.000 Euro cash. Ihre Waren kauft sie im Vorort Aubervilliers. Die kommunistische Partei hatte dort bis in die 80er-Jahre starken Zulauf. Heute ist Aubervilliers ein zentraler Umschlagplatz für global gehandelte Ware, die zuvor im Hafen von Le Havre anlandet.
    Ich gehe das Thema "Abfall" ja ausgiebig an. Es beginnt mit meinen Freund, der sich wertlos fühlt und sich "abschafft". Dann geht es um die Entsorgung unseres täglich produzierten Mülls, um Recyling und um den Schrott industriell gefertigter Massenartikel, die ganz nett aussehen, aber eigentlich zu nichts taugen und die niemand wirklich braucht.
    In den Mittelteil des Triptychons, das Frédéric Ciriez in seinem Roman "Ein Sapeur in Paris" aufklappt, stellt er die Figur Parfait de Paris. Parfait ist aus dem Kongo eingewandert und steuert tagsüber lässig scherzend einen stinkenden Müllwagen durch die engen Straßen des 10. Arrondissement. Kommt das Wochenende, geht Parfait als "Sapeur" auf die Piste. Er trägt gelbe Hosen, einen in England bestellten Blazer aus "elektrisch-grünem Kroko" und eine kurze silberne Krawatte. Parfait ist ein Exzentriker, ein Markenfetischist, der seinen hart verdienten Lohn leichtfertig ausgibt für die Miete eines Rolls-Royce und eines Chauffeurs, der ihn zu den Treffen der "Sapeurs" kutschiert. Die "Sape" hat viele afrikanische Anhänger in Paris. Das Wort steht für "Société des Ambianceurs et des Personnes Élégantes" - Gesellschaft der Unterhalter und eleganten Personen -, wird umgangssprachlich aber auch ganz allgemein für "Kleidung" benutzt. Ihren Ursprung nahm die "Sape"-Bewegung in den 60er-Jahren in Brazzaville, der Hauptstadt des Kongo.
    "Oft reduzieren die Leute die "Sape"-Bewegung auf den reinen Schein. Da ist natürlich etwas dran, aber es ist nur die halbe Wahrheit, denn sie kämpfen auch mit Redegewandtheit um Ansehen. Ihre Sprechweise hat etwas Barockes, fast ein bisschen Versnobtes. Sie sind die Erben des Dandyismus, der zum Raffiniertesten der europäischen Kultur gehört. Es berührt mich, dass die afrikanischen "Sapeurs" Proletarier sind. Auf mich wirken sie wie verkleidete Prinzen. Ich sehe in ihnen die Geschichte armer Leute, die die sozialen Kategorien aufweichen."
    Um sein Studium zu finanzieren, hat Frédéric Ciriez, der als Sohn eines Matrosen an der bretonischen Küste aufwuchs, als Müllmann gearbeitet.
    "Von all den Jobs, die ich in meinem bisherigen Leben gemacht habe, war das der beste. Was habe ich gelacht, hinten auf dem Trittbrett des Müllwagens. Und ich hatte einen wunderbaren Kumpel. Um fünf Uhr morgens machten wir auf freier Strecke immer eine kleine Pause. Es war herrlich."
    Dass Frédéric Ciriez' ganze Sympathie den weniger Privilegierten der französischen Gesellschaft gilt, ist unverkennbar; ebenso, dass er ein detailgenauer Milieubeobachter ist. Hinreißend komisch sind die schlagfertigen Dialoge, die er für Parfait de Paris und seine Konkurrenten geschrieben hat, und grandios ist seine Ironie. So verkehrt er das altbekannte Diener-Herrscher-Verhältnis in sein Gegenteil, indem er dem Wochenend-Snob Parfait einen hellhäutigen Lehrling an die Seite stellt. Der weiße "Mohr" sehnt sich nach Glanz und fungiert doch nur als eine Art dienendes Accessoire. Ciriez nennt den Lehrling augenzwinkernd "Frédéric". Dass Frédéric Ciriez seine Autorenrolle selbstironisch aufbricht, ist stimmig. Es genügt ihm nicht, nur die Existenzweisen der anderen zu prüfen und zu beschreiben, er hat Selbstzweifel. Auch die machen ihn zu dem ungewöhnlichen und hervorragenden Sprachkünstler, der er ist.
    "Ich habe nie das Gefühl gehabt, einen vollen Beruf auszuüben, so wie das ein Arzt tut oder ein Schuhmacher. Sich als Schriftsteller zu begreifen, hat irgendwie etwas Gravitätisches, denn in Frankreich gehört die Literatur zum genetischen Code. Das Land verschmilzt durch die Geschichte hinweg mit seinen Schriftstellern. Ich nenne mich nicht Schriftsteller, denn das kommt mir lächerlich vor."
    Fréderic Ciriez: "Auf den Straßen von Paris"
    Aus dem Französischen von Hansgeorg Hermann
    Edition Tiamat, Berlin 2015, 300 Seiten, 20,00 Euro,
    ISBN: 978-3-89320-192-1