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Zweiter Weltkrieg
Tipps für britische Soldaten im Nach-Nazideutschland

Mit der Landung der Alliierten in der Normandie im Juni 1944 drangen amerikanische und britische Truppen von Westen her in das für sie fremdartige Deutschland vor. Das Foreign Office gab deshalb damals einen Leitfaden heraus, der auch heute noch sehr lesenswert ist.

Von Jochen Schimmang | 22.09.2014
    Der Leitfaden für britische Soldaten in Deutschland ist zunächst ein Akt der Fürsorge. Schließlich betraten da britische Soldaten ein Land, das sich zwölf Jahre lang aus dem Kontext der europäischen Zivilisation verabschiedet hatte. Ein vollständig fremdes Terrain also, in dem, anders als etwa im verbündeten Frankreich, unbekannte Gefahren lauerten. Die amerikanischen Soldaten wurden in der Eifel und Voreifel mit dem Schild gewarnt: "You enter Germany! Be on your guard." Den britischen Truppen wird gleich zu Anfang des Leitfadens klar gemacht, dass sie im Begriff sind
    "einem merkwürdigen Volk in einem merkwürdigen, feindlichen Land zu begegnen",
    wie es in der Einführung heißt.
    Zunächst werden sie auf dessen äußere Gestalt vorbereitet.
    "Wenn Sie von Westen einrücken, kommen Sie in das am stärksten zerbombte Gebiet Europas. Hier sind die Zerstörungen um ein Vielfaches größer als alles, was man in London, Coventry oder Bristol gesehen hat. An all diesen Orten ist das kommunale Leben zusammengebrochen. In West- und Mitteldeutschland findet man ein Kriegsgebiet voll trostloser Armut und Verzweiflung. Den Deutschen ist wahrlich kräftig vergolten worden, was sie in Warschau, Rotterdam und Belgrad angerichtet haben."
    Mit Aussagen über einen Nationalcharakter ist es bekanntlich immer so eine Sache, wie ja überhaupt die Ethnologie, also die Völkerkunde, immer wieder seltsame Blüten getrieben hat. Dennoch scheint mir die hier gelieferte Charakteristik der Deutschen so erschreckend präzise gefasst, dass man sich fragen muss, ob dies nur eine Momentaufnahme aus dem Jahr 1944 ist. Fleiß, Gründlichkeit, Sauberkeit werden ausdrücklich als positive Eigenschaften genannt. Heute würde man vielleicht auf unser Bruttosozialprodukt, das Organisationstalent und die Obsession für die Mülltrennung hinweisen. Die Kehrseite der Medaille formuliert der Leitfaden so:
    "Doch seit Jahrhunderten sind sie daran gewöhnt, sich Autoritäten zu fügen – nicht etwa, weil sie ihre Herrscher für weise und gerecht hielten, sondern weil ihr Gehorsam mit Gewalt erzwungen wurde. Das ist einer der Gründe, warum sie Hitler akzeptierten. Er ersparte ihnen die Mühe des Nachdenkens. Sie mussten lediglich gehorchen und konnten das Denken ihm überlassen."
    Und die moralische Verantwortung natürlich auch, so müsste man hinzufügen. Denn so ist es ja nach dem sogenannten Zusammenbruch gekommen: Der Führer war schuld, nicht das Volk, das ihn so geliebt hat. Den Führer konnte man aber nicht mehr belangen. Und die britische Militärverwaltung stand vor der Frage, was man mit seinem Volk machen sollte, diesem Volk, dem der Leitfaden in einer ungeheuer prägnanten Formulierung eine "Mischung aus Sentimentalität und Gefühlskälte" attestiert.
    Zum besseren Verständnis dieses Volkes gibt es einen kurzen Lehrgang zur deutschen Geschichte, der auf das bekannte Faktum hinweist, dass Deutschland als geeinte Nation erst seit 1871 existiert und dann die übliche direkte Linie von Bismarck zu Hitler zieht, über die man selbstverständlich diskutieren kann. Die soziopolitische Analyse der Weimarer Republik mit den nach wie vor bestimmenden Fraktionen des Militärs, des Großgrundbesitzes und der Großindustrie ist dagegen durchaus zutreffend. Politische Kaffeesatzleser waren es nicht, die da im Foreign Office die britischen Streitkräfte auf das unbekannte Land vorbereiten sollten.
    Im Kapitel "Wie die Deutschen leben" gibt es die üblichen Stereotypen, die bis heute in jedem beliebigen Reiseführer zu jedem beliebigen Land auftauchen. Im Falle Deutschland lesen sie sich so: Sauerkohl, Rotkohl, Wiener Schnitzel und Schweinekotelett sind deutsche Delikatessen. Wurst wird kalt gegessen, und es gibt Hunderte von Sorten. Hervorzuheben sind Mett- und Leberwurst. Die Deutschen lieben Torten mit Schlagsahne. Die Biere sind sehr gut und werden gekühlt. Tee kann der Deutsche nicht kochen, Kaffee aber schon. "Fußball ist reiner Amateursport und Prämien sind unbekannt", eine Information, die für Soldaten aus dem Land, das den Profifußball erfunden hat, natürlich verblüffend sein muss. Vor deutschen Mädchen, die sich an britische Soldaten heranmachen, wird gewarnt; nationsübergreifende Eheschließungen sind selbstverständlich strikt untersagt. Im Übrigen sind Geschlechtskrankheiten infolge des Krieges weit verbreitet. "Viele der katholischen Kirchen sind sehr schön und alt"; namentlich erwähnt werden außer dem Kölner Dom die Dome von Naumburg, Hildesheim, Speyer, Bamberg und Worms. Auf den Straßen herrscht Rechtsverkehr. Und:
    "Wenn Sie deutschen Zivilisten Befehle erteilen müssen, äußern Sie diese in strengem, militärischen Ton. Der deutsche Zivilist ist daran gewöhnt und erwartet nichts anderes."
    Stereotypen dieser Art haben natürlich immer etwas leicht Komisches, sind aber schließlich nicht grundlos. Sie machen auch nicht den wesentlichen Gehalt dieses Leitfadens aus. Was ihn ausmacht, hat Helge Malchow in seiner kurzen Vorbemerkung als "selbstverständliche Humanität, die jeden deutschen Leser heute noch beschämen wird", bezeichnet. Das trifft es. 70 Jahre, nachdem dieser Leitfaden erstellt wurde und angesichts der neuen deutschen Dominanz in Europa, wäre es vielleicht keine schlechte Maßnahme, dieses kleine rote Büchlein als Vademecum in der Jackentasche zu haben.
    Buchinformation:
    Foreign Office: "Leitfaden für britische Soldaten 1944 in Deutschland". Aus dem Englischen von Klaus Modick. Kiepenheuer & Witsch Verlag, Köln, 140 Seiten, Preis: 8,00 Euro