Donnerstag, 28. März 2024

Archiv


Zwischen Armut und Anmut

Der Barockmaler Michelangelo Merisi, genannt Caravaggio, war eine der schillerndsten Künstlerpersönlichkeiten des 16. und 17. Jahrhunderts. Wenige Künstler haben die Nachgeborenen so inspiriert wie er. Dazu trug auch dessen exzentrische und tragische Lebensgeschichte bei.

Von Rainer Berthold Schossig | 18.07.2010
    "In Rom bin ich immer zuerst in die Kirche der Franzosen gegangen, dort, in der letzten, stockdunklen Seitenkapelle habe ich mir selbst das Licht angezündet und habe die Bilder von Caravaggio betrachtet, eigentlich immer nur das eine, die Berufung des Matthäus, auf dem der junge Caravaggio das unwillige Staunen des von Jesu herbeigewinkten Zöllners so unvergleichlich dargestellt hat. Und immer habe ich mich dann gefragt, ob nicht der starke und gewalttätige junge Maler, der eben erst nach Rom gekommen war, und der wegen eines Totschlags schon bald wieder aus der Stadt fliehen musste, angesichts jenes großen religiösen Auftrags ein ähnliches Staunen empfunden hat."

    So schwärmte die Schriftstellerin Marie Luise Kaschnitz über die "Berufung des Matthäus", gemalt 1599 von Michelangelo Merisi, genannt Caravaggio, für die Kirche San Luigi dei Francesi. Und die Romkennerin nennt auch die wichtigsten Stichworte zu Leben und Werk dieses Malers der Dunkelheit, von dem es heißt, er sei der Begründer der Barockmalerei: Erstens: Caravaggios jugendliches Ungestüm – 1571 geboren, starb er schon am 18. Juli 1610, vermutlich an einer Bleivergiftung, mit 39 Jahren. Zweitens: seine Gewalttätigkeit – in der Wirklichkeit und in der Kunst: er wich kaum einer Rauferei oder Messerstecherei aus, jede Bluttat oder Folterszene war ihm darstellungswürdig. Und drittens: Er war fast ein Leben lang auf der Flucht: Vor der Pest, vor Neidern und Rivalen, vor polizeilicher Verfolgung und – vor sich selbst.

    Dabei hatte alles so schön begonnen: Caravaggios frühe Werke sind durchglüht von naiver, erdgebundener Sinnlichkeit und Lebensfreude: Einträchtig musizierende Knaben, halbnackte Lautenspieler, Bacchanten zwischen Früchten und Weinkaraffen, Maskeraden und Kartenspiel, schlafend hingegossene Amoretten und immer wieder: der Triumph der Liebe – in glitzernder, oft androgyner Erotik. Johannes der Täufer als Lustknabe im Schafspelz, schöne Madonnen, bei denen Prostituierte Modell standen, und der junge David, nicht als triumphierender Held, sondern als trauriger Sieger über einen Goliath, der Caravaggios Züge trägt. Das Beunruhigende und Bedrängende seiner Malerei: Er sucht nicht die Weite der Landschaft, sondern bringt seine Figuren dem Betrachter näher als je ein Maler zuvor; so etwa die berühmte Judith, die den Holofernes direkt vor unseren Augen enthauptet, blutig, brutal, angeekelt, was schon 1770 die englische Salondame Lady Ann Miller befremdlich fand:

    "Ich konnte mich des Gedankens nicht erwehren, es müsse nach dem Leben gemalt sein, und bei dieser Vorstellung wurde mir schwach und übel. Es rief wohl dieselben Empfindungen hervor, die mir der Anblick einer wirklichen Hinrichtung verursacht hätte. Der Schnitt durch den Hals, Judiths Kraftanstrengung, das Blut, das aus den durchtrennten Adern spritzt, die Selbstbeherrschung, mit der sie das Gesicht von ihrem grässlichen Tun abwendet: Mit einem Stolz und einer Unerschrockenheit, die sich für eine Frau wenig ziemen ..."

    Dies Unziemliche zieht sich durch viele Gemälde Caravaggios: Die Henker, die den Petrus kreuzigen, haben schmutzige Füße und einen fetten Hintern, die Helfer bei Christi Grablegung packen derb zu, und der "Siegreiche Amor" präsentiert sich in geradezu obszöner Nacktheit.

    Im 18. Jahrhundert verlosch das Interesse an der bodenständigen Derbheit des von Skandalen umwitterten Malers. Erst nach dem Zweiten Weltkrieg begann man, ihn wieder zu entdecken. Der deutsche Biograf Boris von Brauchitsch:

    "Der sensible, psychisch labile selbstzweiflerische und verkannte Künstler, wie er im 19. Jahrhundert von der Romantik bis zu van Gogh als Ideal verklärt wurde, ist in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts einem Künstlerbild des selbstbewussten Provokateurs gewichen, wie es Picasso prototypisch verkörperte. Hier konnte der ungehobelte Caravaggio Pate stehen."

    Spätestens seit der englische Regisseur Derek Jarman das unordentliche Leben des schwulen Künstlers und Totschlägers verfilmte, gibt es geradezu einen Caravaggio-Kult: Gewalt und Blut, Falschspiel, Ausschweifung und früher Tod faszinierten auch schon Pier Paolo Pasolini, der jede Form moderner Abstraktion ablehnte und in seinen Filmen dem Hell-Dunkel und dem gnadenlosen Realismus Caravaggios nacheiferte.