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Zwischen den Weltkriegen
Europa im Krisenmodus

Der britische Historiker Ian Kershaw nimmt mit seinem neuen Buch "Höllensturz. Europa 1914 bis 1949" eine ganze Geschichtsperiode in den Blick. Nüchtern analysiert er, wie epochale Kräfte die europäische Geschichte vom Ersten bis zum Ende des Zweiten Weltkrieg beeinflussten. Dabei zeigt er, wie notwendig auch in Zukunft die Idee eines Europas ist, das nationalstaatliche Egoismen überwindet.

Von Martin Hubert | 12.09.2016
    Flüchtlingstrecks fliehen vor der Front des Zweiten Weltkriegs in Osteuropa (undatiertes Archivbild aus dem Jahr 1945).
    Flüchtlingstrecks fliehen vor der Front des Zweiten Weltkriegs in Osteuropa (undatiertes Archivbild aus dem Jahr 1945). (picture alliance / dpa)
    Europa zwischen 1914 und 1949: zwei Weltkriege, Diktaturen von Franco und Mussolini bis Hitler und Stalin, der Völkermord an den Juden, Kolonialismus, Vertreibungen und Hungersnöte. Die Ära von Krieg, Gewalt und Katastrophen bezeichnet der britische Historiker Ian Kershaw im Titel seines neuen Buches als "Höllensturz" – und auch in den Kapitelüberschriften findet er dramatische Worte:
    "Europas Epoche der Selbstzerstörung. Am Abgrund. Tanz auf dem Vulkan. Gefahrenzone. Hölle auf Erden."
    Und so weiter und so fort. Im Buch selbst spricht Kershaw immer wieder von einer "Krankheit der Epoche", vom totalen Zivilisationsbruch und der Unvorstellbarkeit des Schreckens und Leidens in dieser Zeit. Es gehe ihm nicht darum, betont er im Vorwort, neue Perspektiven und Fakten zur ersten Jahrhunderthälfte zu präsentieren, sondern um eine Zusammenschau und eine persönliche Interpretation. Das verleiht dem brillant geschriebenen Buch eine emotionale und moralische Komponente. Kershaw akzentuiert sie vielleicht auch deshalb so stark, weil es ein Buch ohne Anmerkungen ist, das sich an eine breitere Öffentlichkeit wendet. Er möchte dem Leser die Periode wirklich nahebringen, ihm zeigen, wie es für die Menschen, die damals lebten, gewesen sein muss. Daneben bietet Kershaw aber auch das, was man von einem britischen Historiker seines Ranges erwartet: eine nüchterne Analyse der epochalen Kräfte.
    "Die folgenden Kapitel loten die Ursachen dieser unermesslichen Katastrophe aus. Sie verorten sich in vier ineinandergreifenden Elementen einer alles erfassenden, einzigartigen Krise, das sind: Erstens: die explosionsartige Ausbreitung eines ethnisch-rassischen Nationalismus. Zweitens: erbitterte und unversöhnliche territoriale Revisionsforderungen. Drittens: ein akuter Klassenkonflikt, der mit der bolschewistischen Revolution in Russland einen konkreten Fokus bekam. Und viertens: eine langanhaltende Krise des Kapitalismus, die viele Beobachter für letal hielten."
    Breites Panorama der Zeit
    Kershaw kommt immer wieder auf diese Elemente zurück, um zu zeigen, warum Europa in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts nicht aus dem Krisenmodus herauskam. Darüber hinaus entfaltet er aber mit immensem Wissen ein breites Panorama dieser Zeit. Der Leser findet Informationen über Währungs- und Gewerkschaftspolitik, über Rassismus, die Frauenfrage, die Rolle der Medien oder der Kirchen. Die Spaltung der Linken zwischen Sozialdemokratie und Kommunismus hat genauso ihren Platz wie wichtige Entwicklungen in Wissenschaft, Kultur, politischer Theorie und Kunst. Deutschland, Frankreich und Großbritannien stehen im Zentrum des Buches. Kershaw informiert aber auch über die russische, italienische und spanische Politik sowie über die mittel-, osteuropäischen und die skandinavischen Länder. Mit einem bitteren Fazit:
    "Einige Diktaturen hatten sich bereits in den 1920er-Jahren gebildet, andere folgten als Besatzungsregimes in den 1940er-Jahren, die 1930er-Jahre aber waren das Jahrzehnt, in dem die Diktaturen blühten und gediehen."
    Die Leitfrage, die das alles zusammenhält, lautet: Inwieweit waren die politischen Eliten der verschiedenen Länder in der Lage, liberale, humane und demokratische Grundsätze in Krisenzeiten gegen Rassismus, Kriegs- und Expansionsgelüste sowie autoritäre Bestrebungen aufrecht zu erhalten. Beim Ersten Weltkrieg bekräftigt der Autor die neuere historische Sicht, dass Deutschland nicht allein verantwortlich war. Er macht aber auch entschieden deutlich, dass das kein Schuldfreispruch ist.
    "Am entscheidenden Punkt im Juli 1914 zeigten sich Deutschland, Österreich-Ungarn und Russland als die in dieser Krise maßgeblichen Kräfte, wobei Deutschland die ausschlaggebende Rolle spielte. Das Kaiserreich verband seine Ambitionen, zur dominierenden Macht auf dem europäischen Kontinent zu werden, mit einer wachsenden, nachgerade paranoiden Angst vor dem Aufstieg, gar einer möglichen Vormachtstellung Russlands. Um diese zu verhindern, war Deutschland bereit, einen gesamteuropäischen Flächenbrand zu riskieren."
    Aufstieg der Nazis: Breite Vogelperspektive statt Detailananlyse
    Wenn Kershaw dann jedoch zusammenfasst, warum in Deutschland die Nationalsozialisten an die Macht kamen, ist das nicht ganz unproblematisch. Hier zeigen sich Gefahren eines Ansatzes, der die breite Vogelperspektive der Detailanalyse vorzieht und sie mit dem emotionalen Krisennarrativ der "Hölle" verbindet.
    "Das Gefühl, dass die Existenz einer ehemals großen Nation, jetzt von der Krise geschüttelt, in Gefahr war, gedemütigt, ohnmächtig und hoffnungslos in sich gespalten – dieses Gefühl überdeckte alles andere, gewann enorm an Stärke und wurde zum ungeheuren Druck, unter dem die Strukturen der parlamentarischen Demokratie nachgaben. Politischer Raum öffnete sich. Eine immer größere Zahl von Deutschen sah nur eine Hoffnung: Hitlers NSDAP."
    Hier vermitteln Begriffe wie "Abgrund", "Druck" oder "sich öffnender Raum" ein Bild von Geschichte, das sie als quasi übermenschliches Entwicklungsgeschehen darstellt. Die Katastrophe scheint sich zu verselbständigen, ganz von allein, ohne dass konkrete Personen dafür verantwortlich wären.
    Wer solche Passagen allerdings kritisch liest und einen informativen Überblick über die europäische Periode zwischen 1914 und 1949 sucht, wird mit Kershaws Buch bestens bedient. Zudem regt die Lektüre dazu an, grundsätzlich über das "Projekt Europa" nachzudenken.
    "Aus der Asche: Entgegen aller Wahrscheinlichkeit hatte ein neues Europa eigenständige Gestalt angenommen, das zwar in sich geteilt war, dessen Teile aber bald auf solideren Fundamenten ruhten, als dies direkt nach Kriegsende vorstellbar gewesen wäre. Inmitten der Narben, die der schrecklichste Krieg aller Zeiten hinterlassen hatte, tat sich die Möglichkeit eines Europas auf, das stabiler und prosperierender war, als man es sich seit Menschengedenken je hätte vorstellen können."
    Ian Kershaw hat ein Buch geschrieben, das eindringlich zeigt, wie notwendig die Idee eines Europas war und ist, das nationalstaatliche Egoismen überwindet und die soziale Frage angeht. Im Moment arbeitet der Historiker an einem zweiten Band, der die Geschichte Europas bis zur Gegenwart behandelt. Man kann auf ihn gespannt sein, denn dann wird es um ein Europa gehen, das wieder mit nationalistischen Tendenzen sowie sozialen und ökonomischen Krisen kämpft.
    Ian Kershaw: "Höllensturz - Europa 1914 bis 1949"
    Aus dem Englischen von Klaus Binder, Bernd Leineweber, Britta Schröder
    768 Seiten, gebunden, DVA Sachbuch, 2016, ISBN: 978-3-421-04722-9, 34,99 Euro