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Zwischen Diesseits und Jenseits

Zu Beginn der Erzählung entsteigt der japanische Reisende dem Zug und wandert durch menschenleere Straßen hinaus in eine mit wildem Gesträuch überwucherte Talschlucht. Wenn zuletzt das Ende mit dem Anfang zusammenfällt und die Romanfigur sich in Nichts auflöst, weil sie ein literarisches Zitat war, so ist der Autor am Ziel seines Erzählplans.

Von Sibylle Cramer | 29.11.2005
    Die Jenseitsreise ist ein klassischer Bestandteil des Epos. Das Erzählschema teilt die Welt in ein Diesseits geschichtlichen Lebens und ein Jenseits ewigen, gepeinigten oder erlösten Lebens ein. Den Hingang des Mythos hat die Jenseitsreise mühelos überlebt. Ihr Inhalt wurde lediglich säkularisiert und ästhetisiert, zur Metapher des Dämonischen, Unbewussten oder Erhabenen umgedeutet. Der ungarische Erzähler László Krasnahorkai bedient sich der alten Handlungsvorlage, um sie in einem Spagat zwischen Poesie und Philosophie zu überbieten. Sein Romanheld verlässt zur Frühlingszeit die japanische Kaiserstadt Kyoto. Zu Beginn der Erzählung entsteigt der Reisende dem Zug und wandert durch menschenleere Straßen hinaus in eine mit wildem Gesträuch überwucherte Talschlucht. Er überquert eine Brücke und stößt auf der gegenüberliegenden Seite auf einen mächtigen, der Kreidezeit entstammenden Gingko-Baum und schließlich auf eine Mauer. Der Übergang von den fabulierend-epischen Erzählweisen des Romans zur ideenhaft-allegorischen Dichtung wird sorgfältig vorbereitet. Das Scharnier, das den Bezirk roher Schöpfung und das Reich der von Menschenhand geschaffenen Schönheit trennt und verbindet, ist ein magischer Schwellen-Ort, dessen verwandelnde Überschreitung den Ankömmling wie auf einer Himmelfahrt in einen kategorial anderen Raum und eine neue Zeit versetzt.

    "Er ging weiter, auf der Suche nach dem Eingang, während er das Gefühl hatte, dass die unerschütterliche Geschlossenheit und Unverändertheit der Mauer zu seiner Linken nicht einfach zur Kennzeichnung eines riesigen Grundstücks dienten, sondern auch wissen ließen, dass er bald andere Maßeinheiten brauchen wird als solche, an die er gewöhnt ist, und dass andere Proportionen als solche, die bisher sein Leben einschlossen, bestimmend sein werden. Das Tor fand er nicht dort, wo er es erwartet hätte, und als er gewahr wurde, dass er ins Innere gelangte, da war er schon drinnen. Ein Tor, das zwar seiner Form nach ein Tor ist, seiner Platzierung nach aber eher ein Rätsel. Ein andersartiges Tor, das den Ankömmling von einer anderen Richtung erwartet und in eine andere Richtung lenkt, anderswoher, anderswohin."

    Der Ankömmling findet sich in einem verlassenen buddhistischen Kloster wieder. Augenblicklich fällt er abwechselnd in Ohnmachten oder tiefen Schlaf und verschwindet über weite Kapitelstrecken von der Bildfläche. Das Erzählen aber wechselt aus der chronologischen Ordnung der abenteuerlichen Fiktion in die zyklische Zeit eines einzigen großen Schau-Augenblicks, dessen Wiederholungen Ausgangspunkt für die erzählerische Fortbewegung sind. Die rhetorische Verbildlichung reiner Anschauung obliegt dem Erzähler, der seinem Leser die Augen öffnet für die vollendete Schönheit des Klosters und die Absolutheit der Bauidee, indem er noch im geringsten sinnlich gegenwärtigen Detail das Gesetz, Wesen und Geheimnis des sinnerfüllten Ganzen erkennt, der religiösen Genialität und Totalität des Heiligen im alten Japan. Das hat bedenkliche Folgen. Der Erzähler verfällt der semiologischen Zwangsneurose, noch dem geringsten Detail einen Sinn zuzuschreiben, als gelte es, die Rätsel des Universums und das Geheimnis seines letzten Zwecks aus der Welt zu schaffen.

    "Die seltsam kleinen Sporen des weißlichen Mooskissens waren nach dem Absterben eines örtlich nicht näher bestimmbaren, vertrockneten, aber noch reife Sporen enthaltenden Mooses in die Luft gelangt. Extrem hoch hinauf, so hoch, wie eine solche Sporenwolke noch hinaufgelangen kann, in den Jetstream genannten Luftstrom, der die Erde mehrmals umkreiste, worauf er das Ganze in einem Luftwirbel gewissermaßen fallen ließ, um es über da unüberblickbar komplexe System der Zufälle in diesen geschützten und verlassenen Klosterhof zu verfrachten."

    Alles, jede handwerkliche, jede bautechnische oder gärtnerische Einzelheit breitet der Erzähler mit der Leidenschaft eines Fliegenbeinzählers aus, um die substantielle Einheit, Unteilbarkeit und kompakte Dichte solch momentaner Totalität zu sichern. Denn sie zeigt Spuren des Verfalls und trägt als erzählte Welt die Signatur der Sehnsucht im Zeitalter des Verlusts. Wenn zuletzt das Ende mit dem Anfang zusammenfällt und die Romanfigur sich in Nichts auflöst, weil sie ein literarisches Zitat war, so ist der Autor am Ziel seines Erzählplans. Er hat seinem Leser vorgeführt, wie begrenzt die Natur und wie unendlich die Idee ist. Der Leser freilich musste einem bedeutenden Autor dabei zusehen, wie er mit dürftigen erzählerischen Mitteln zu Wahrheiten gelangt, die doch schon in der Klassik und Romantik, bei Jean Paul und in Schillers Betrachtungen über das Sentimentalische enthalten sind.

    Laszlo Krasznahorkai: "Im Norden ein Berg, im Süden ein See, im Westen Wege, im Osten ein Fluss"
    Ammann Verlag