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Zwischen digitaler Folklore und politischer Propaganda

Das Besondere an russischer Literatur im Netz ist nicht, dass die Literatur ihren Weg dort hingefunden hat, sondern dass viele Menschen diese sehr schnell dort entdecken.

Von Uli Hufen | 25.08.2011
    Am 29. Juni 2011 erschien auf der russischen Internetseite vladimir.vladimirovich.ru folgende komische Miniatur:

    Eines Tages saß Wladimir Wladimirowitsch Putin in seinem Arbeitskabinett und starb vor Hitze. Plötzlich klingelte in der Tasche von Wladimir Wladimirowitsch™ das Regierungsmobiltelefon. Wladimir Wladimirowitsch™ nahm den Apparat, der anstelle einer Tastatur einen doppelköpfigen Adler hatte, schnell aus der Tasche und drückte auf die einzige Taste.
    - Brüderchen! - im Hörer ertönte die schmerzhaft bekannte Stimme des Pensionärs Jurij Michailowitsch Luschkow, - Brüderchen! Sag Du doch dem, der nicht vertraut ... er soll mich nach Petersburg schicken!
    - Was denn? - wunderte sich Wladimir Wladimirowitsch.
    - Als Gouverneur! - sagte Jurij Michailowitsch, - Sag's ihm genau so: Luschkow ist bereit den Posten des Gouverneurs von Sankt Petersburg anzunehmen!
    - Also - Wladimir Wladimirowitsch verlor den Kopf, - Also da weiß ich nicht...
    - Es muss sein, Brüderchen! - erhöhte Jurij Michailowitsch die Stimme, - ... meine Stellvertreter sterben! Erschießen sich. Leiden! Wenn ich nicht bald wieder Gouverneur werde, erschießen die sich doch alle!
    - Also beruhige dich mal, Brüderchen, beruhige dich, - antwortete Wladimir Wladimirowitsch, - Mir persönlich gefällt die Idee. Die ewigen Petersburger gehen mir auch schon auf die Nerven. Ich rufe Dima direkt an, entspann dich.
    - Ja, ruf ihn an, Brüderchen, - bat Jurij Michailowitsch, - Ruf ihn bitte unbedingt an! Ich wollte schon als Bürgermeister von London kandidieren. Aber hier passt doch alles zusammen ...
    Wladimir Wladimirowitsch hob erstaunt die Augenbrauen.


    Seit Oktober 2002 sind auf www.vladimir.vladimirovich.ru einige Tausend derartige Miniaturen erschienen. Held und Hauptfigur ist stets Putin, den Inhalt diktieren tagesaktuelle Ereignisse. Der Moskauer Bürgermeister Jurij Luschkow war im Herbst von Präsident Dmitrij "Dima" Medwedjew entlassen worden, offiziell mangelte es an Vertrauen. Der Job des Petersburger Gouverneurs wird demnächst tatsächlich frei, weil die Amtsinhaberin gerade nach Moskau wegbefördert wurde.

    Autor der Miniaturen ist der Moskauer Programmierer und Journalist Maxim Kononenko, alias "Idiot" alias "Mr. Parker". Kononenko ist einer der bekanntesten russischen Blogger, gehört als Autor und als Programmierer zu den Großvätern des RuNet genannten russischen Internets und hat täglich Tausende Leser. Er ist ein umstrittener, aber unbestritten einflussreicher Autor im RuNet.

    Wie man wissenschaftlich korrekt benennt, was Kononenko seit Jahren macht, kratzt ihn wahrscheinlich wenig. Die Berliner Slawistin Henrike Schmidt dagegen schon.

    Figur und Werk Kononenkos illustrieren idealtypisch einige Grundzüge des RuNets, insbesondere den hohen Grad an Politisierung, die stete, zwischen Subversion und Affirmation changierende Auseinandersetzung mit der Problematik der politischen Instrumentalisierung sowie die starke Anbindung an die 'Medien', die den Thrill der Aktualität bewirkt.

    Henrike Schmidt hat im Transcript Verlag gerade den Wälzer "Russische Literatur im Internet. Zwischen digitaler Folklore und politischer Propaganda" veröffentlicht. Der wissenschaftliche Jargon - das direkt als Warnung - macht die Lektüre zuweilen qualvoll. Wer das aushält, dem eröffnet sich eine wahre Fundgrube an Wissen und Informationen. Dabei geht es um viel mehr, als nur um Literatur.

    Schon der Titel von Schmidts Buch macht klar, dass die Literatur im RuNet nicht das hyperavantgardistische Projekt ist, von dem frühe Internet-Euphoriker geträumt haben. Es ist nicht die Fortsetzung des post-modernen Romans mit Hilfe von Links und kollektiver Autorschaft, es geht nicht um Textroboter, Code- oder Medienkunst. Jedenfalls nicht vordringlich. Kleine Gattungen wie Märchen, Witze, Aphorismen, Zitate, kurze Erzählungen oder Szenen überwiegen deutlich. Sehr populär sind zum Beispiel die so genannten "tanketki", Miniaturgedichte, die lediglich sechs Silben, fünf Wörter und zwei Zeilen umfassen dürfen. Wichtiger als konkrete Texte konkreter Autoren ist aber etwas anderes:

    Sechs Millionen Gedichte von rund 210.000 zeitgenössischen Autoren und Autorinnen verzeichnet die populäre russische Selbstpublikationsplattform stikhi.ru im April 2009; 870.000 Prosatexte von an die 70.000 Literat/-innen annonciert das Schwesterprojekt proza.ru. Vergleichbar imposante Zahlen weisen ähnlich strukturierte literarische Sites wie liter.ru oder grafoman.ru auf.

    Aus derartigen Textmengen ergeben sich dramatische Konsequenzen für die Literaturwissenschaft: Es kann nicht mehr oder jedenfalls nicht mehr nur darum gehen, individuelle Texte individueller Autoren zu untersuchen. Und es ist schlechterdings unmöglich, mithilfe des über Jahrhunderte erprobten kritischen Bestecks der Literaturkritik einen Kanon des Lesens- und Bewahrenswerten zu entwickeln. Zitat Henrike Schmidt:

    Die schreibende Masse ist eine Irritation und eine Provokation für den Literaturbetrieb.

    Nun ist es nicht so, dass es im RuNet keine Stars gibt. Autoren wie Aleks Eksler, Sergej Lukjanenko, Roman Lejbow, Jewgenij Gornij oder Maksim Kononenko publizieren vorwiegend im Netz oder verdanken ihm zumindest ihren Start. Aber eine Konzentration auf die bekanntesten Namen ginge am Wesen der Internetliteratur vorbei. Nicht nur der Russischen. Schmidt erkennt darin ein veraltetes Denken in modernistischen Kategorien, in denen Kultur die permanente Erneuerung durch kreative Genies ist. Schmidt:

    Ich möchte ein alternatives Modell des Zusammenwirkens von Kreativität und Imitation in der durch Massenhaftigkeit charakterisierten Netzkultur vorschlagen, das den 'revolutionären' Beitrag zur Konstitution von neuen Schreibformen und Genres eher im Bereich der "Nachahmer" und ihrer imitativen kulturellen Praxis sieht.

    Nicht das Neue ist das Neue im Russischen Internets. Neu ist, dass so viele das Neue schnell entdecken, erkennen, annehmen und nachmachen.

    Eine andere fundamentale Frage, die von der Netzliteratur gestellt wird, lautet: Was eigentlich ist Literatur? Schmidt fasst den Begriff in ihrer Arbeit weit, oder wie sie sagt: funktional. Statt von "Literatur" spricht sie von "Literarizität" und von "literarischen Fakten". Das ist eine kluge Entscheidung. Sie erlaubt Schmidt, allerlei hochinteressante Projekte, Sprachspiele, Blogs und PR-Projekte der letzten 20 Jahre vorzustellen, ohne ständig danach zu fragen, ob man es hier überhaupt mit "Literatur" im gängigen, strengen Sinne zu tun hat. So entsteht auf fast 750 Seiten weit mehr als eine Geschichte der russischen Netzliteratur: Es entsteht eine Geschichte des russischen Internets von den anarchistischen Anfängen der 90er Jahre bis zum iPad und Twitter-Präsidenten Dmitrij Medwedjew. Und das hat man so konzentriert und gut informiert noch nie auf Deutsch gelesen.

    Das RuNet entstand Ende der 80er, Anfang der 90er-Jahre und wurde über viele Jahre nicht vom Staat und auch nicht von großen kommerziellen Strukturen geprägt, sondern von Intellektuellen, Technikfreaks und Literaten. Ob der Staat schlicht Besseres zu tun hatte, als sich um ein paar Netzaktivisten zu kümmern, oder ob er zu dämlich war, um die Bedeutung des Netzes zu erkennen, sei dahingestellt. Fakt ist, dass in den späten 90er -Jahren viele der bis heute prägenden Plattformen des russischen Netzes auf Initiative von unten entstanden: die Webbibliothek von Maksim Moschkow, das Nachrichtenportal lenta.ru, der Zeitschriftenlesesaal zhurnal.ru, die Politik-Seiten Polit.ru und Gazeta.ru. Nach 2001 verlor das Netz allmählich seine Unschuld. Schuld daran war nicht, wie man im Westen gerne glaubt, wachsender politischer, sondern vor allem wachsender kommerzieller Druck. Schmidt:

    Das Internet ist - ungeachtet aller Diskussionen und einzelner konkreter Schritte zu seiner Regulierung - jedoch auch in den so genannten Nuller-Jahren des beginnenden 21. Jahrhunderts in der Praxis weitgehend unzensiert.

    Es dürfte im Jahr 2011 klar sein, dass nennenswerte Auskünfte über Deutschland, die USA oder eben Russland ohne Fachwissen über die jeweiligen Segmente des Internets kaum noch möglich sind. Das zeitgenössische Russland ist ohne das RuNet unvorstellbar. Um so dankbarer muss man kundigen Experten wie Henrike Schmidt sein, die den interessierten, aber des russischen nicht mächtigen Leser mit auf Entdeckungsreise nehmen. Schmidt ist ein grundlegendes Werk über die zeitgenössische russische Kultur gelungen, das politische, ideologische, medientheoretische und technische Aspekte virtuos verbindet. Das Schönste aber ist, dass hier zur Abwechslung mal keine sorgenvolle Mahnerin über Russland und die russische Kultur schreibt, sondern eine Autorin, deren grundlegende Neugier und Faszination auch dickster Wissenschaftsjargon nicht verbergen kann.

    Henrike Schmidt: Russische Literatur im Internet. Zwischen digitaler Folklore und politischer Propaganda. transcript Verlag Bielefeld, 734 Seiten