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Zwischen Experiment und Existentialismus

Die Kunst, aus nichts ein wenig, vielleicht sogar einiges zu machen, sollte man nicht gering schätzen. Auch wenn das Ergebnis einem nicht die Sprache verschlägt. Die kleinen Bilder wirken mitunter recht lange nach.

Von Christoph Schmitz | 21.05.2011
    Bei den Filmfestspielen von Cannes gab es außerhalb des Wettbewerbs in den beiden Reihen "Un Certain Regard" und "Semaine de la Critique" besonders schöne Stücke dieser Art zu sehen. Am wenigsten Aufwand betrieb der Spielfilm "Die Akazien" von Pablo Giogeli aus Argentinien.

    Ein Lastwagenfahrer nimmt in seinem Holztransporter auf dem langen Weg vom Urwald nach Buenos Aires eine junge Mutter mit. Auf ihrem Schoß hält sie auf dem Beifahrersitz ihren Säugling. Und was der Mann und die Frau vor allem tun, ist schweigen und aus dem Fenster sehen, wie die Landschaften vorüberziehen. Die meiste Zeit verbringen wir mit der Kamera in der Fahrerkabine, hören keine Musik, sondern nur den lärmenden Motor. Und doch will man immer weniger aus diesem engen Raum aussteigen. Denn in scheinbarer Realzeit spüren wir, wie das faltige Gesicht des Fernfahrers und die bewegungslose glatte Haut der Frau Signale freisetzten und zu sprechen beginnen. Am Ende in Buenos Aires plaudern die beiden, wollen sich unbedingt wiedersehen, und man hat das Gefühl, ihnen steht noch eine schöne Lebenszeit bevor. Während in diesem argentinischen Film die Zeit zu fließen beginnt, wirkt sie in einem ebenfalls kammerspielartig inszenierten Stück aus dem Iran förmlich zerstückelt in die Sekundentaktung einer tickenden Uhr.

    Mohammad Rasulof erzählt in "Auf Wiedersehen" von einer jungen, klugen Anwältin, die Teheran verlassen möchte, weil ihr aus politischen Gründen die Anwaltslizenz entzogen wurde. Nun wartet und wartet die schwangere Frau in dunklen Räumen daheim auf die Ausreisepapiere, verkauft ihre Möbel, um mit dem Geld die Behörden zu bestechen, versorgt ihre Schildkröte täglich mit frischem Wasser, das aber immer ausläuft. Wie das Terrarium, so droht auch ihr eigener Lebensraum auszutrocknen. Kühl kalkuliert die Frau ihre Möglichkeiten, tapfer, leise, lässt ihr Down-Kind nicht abtreiben, schafft es am Ende aber nicht mehr bis zum Flughafen. Die Geheimpolizei schlägt zu. Beklemmender und genauer kann man ein Leben unter Verfolgung nicht inszenieren. Während des Festivals wurde bekannt, dass Rasulofs Reiseverbot, anders als bei seinem Landsmann Jafar Pahani, aufgehoben wurde. Für einen Besuch zur Premiere nach Cannes war es aber schon zu spät.

    Die genauen Feldforschungen über den Alltag der Menschen rund um den Globus in prekären Verhältnissen zeichneten viele Filme in diesem Jahr aus. Oft blieb der Realismus in der Tristesse stecken, manchmal vergaloppierte er sich in sozialpädagogischen Lösungsabsichten, manchmal aber sprengte er ihn mit feinem Surrealismus auf. Wie der brasilianische Film "Trabalhar cansa", "Arbeit macht müde" vom Regiepaar Juliana Rojas und Marco Dutra.

    Eine Ehefrau in Sao Paulo will endlich wieder arbeiten. Sie will einen Supermarkt mieten und erzählt ihrem Mann, dass von den Regalen bis zu den Kühlschränken schon alles vorhanden sei. Sie renoviert die kleine Halle. Die Kratzspuren und der Schimmel an einer Stelle werden einfach übermalt. Das Geschäft läuft mühsam an, der Mann verliert seinen Arbeitsplatz, die Globalisierung fordert auch im Schwellenland Brasilien ihren Preis, und aus dem übel riechenden Verputz bricht am Ende Schreckliches hervor. Für die Unsicherheit und diffusen Ängste unserer Zeit hat das Regisseur-Paar starke Bilder gefunden. Der Film schließt mit Szene in einem Seminar für Arbeitslose, die ihre Urkräfte herausschreien und mobilisieren sollen.

    So wie Rojas und Dutra arbeiten sich auch andere Realisten zu düsteren Zeichen vor und lassen etwa über einem glücklichen Familienalltag in den USA im Wahnblick des Vaters regelrechte Tornados und Tsunamis hinwegbrechen. So macht es Jeff Nichols in seinem Psychothriller "Take Shelter". Auch der koreanische Film "Der Mörder" von Na Hong-Jin beginnt mit einem sozialkritischen Blick auf das Elend der koreanischen Minderheit im Norden Chinas, um seinen Helden möglichst schnell in ein atemberaubendes Gangsterstück in Seoul zu schicken. Richtig gut wird der Film in den Ruhephasen des Flüchtenden. Die Stille wird dann ziemlich laut. Davon war in Cannes Beachtliches zu hören und zu sehen.