Freitag, 19. April 2024

Archiv


Zwischen Fiktion und Dokumentation

1,5 Milliarden Fernseh-Zuschauer weltweit sahen im Juli 2006 das Finale der Fußball-Weltmeisterschaft zwischen Italien und Frankreich im Berliner Olympiastadion (mit Zidanes berühmten Kopfstoß gegen seinen Gegenspieler Materazzi). Aber was sahen sie eigentlich?

Von Christian Gampert | 23.10.2010
    Die von der FIFA oder den von ihr lizenzierten Fernsehanstalten bereitgestellten Bildern. Harun Farocki hat dieses Ereignis in einer Video-Installation auf zwölf Projektionsflächen aufgespalten. Er zeigt nicht nur das Spiel, sondern auch, mit Extra-Kameras, Ersatzbank, Trainer, das Gelände außerhalb des Stadions, Sicherheitskräfte, Zufahrtswege, verlassene U-Bahn-Stationen, den Abendhimmel. Und, andererseits, die computertechnische Auswertung des Spiels, Laufwege der Spieler, strategische Gruppierungen, Fehleranalysen.

    Seit der Computer die Macht ergriffen hat, leben wir in diversen Parallelwelten. Der Computer, so Farockis These, habe weitgehend die Arbeit des menschlichen Auges übernommen – nicht nur in industriellen und militärischen Zusammenhängen, aber vor allem in diesen. Für den gelernten Dokumentarfilmer Farocki hat diese Entwicklung eine erstaunliche Konsequenz: Er produziert immer mehr fürs Museum, also für einen Ort, in dem die gesellschaftlichen Codes nicht von vornherein klar sind, sondern wo das geduldige Zuschauen gefordert wird. Seine auf der "documenta" gezeigte Fußball-Installation, nun auch in Bregenz zu sehen, ist eine Analyse von Macht und Kontrolle par excellence – was im Fernsehen unterhaltsam aufgehübscht und konsumierbar gemacht wird, das kann hier in all seiner bürokratischen Nacktheit vorgeführt werden.

    Das gilt auch für die drei neuen Arbeiten, die Farocki für diese Ausstellung produziert hat. Sie sind Teil der Serie "Ernste Spiele" und beobachten US-Soldaten vor einem Trainings-Computer: Virtuell fahren sie im Panzer durch feindliches Gebiet, und am Ende ist einer tot, der Bordschütze. Farocki arbeitet auch hier mit Doppelprojektionen: Auf der einen Leinwand sehen wir die angespannten Soldatenkörper vor der Tastatur, auf der anderen ihre simulierte Fahrt durch feindliches Gebiet.

    Und dass "Simulation" nicht nur eine postmoderne Theorievokabel ist, sondern bösartige Realität, wird in dieser Ausstellung fast schmerzhaft klar. Traumatisierte Soldaten berichten einer in Ausbildung befindlichen Psychiaterin von ihren Kriegserlebnissen – aber der Patient ist in Wahrheit ein Psychologe, der das Trauma nur gut spielt. Das Ganze ist Training – ebenso wie die rührenden Versuche amerikanischer Wachtposten im Film, mit der einheimischen irakischen Bevölkerung Kontakt aufzunehmen. In Wahrheit sind die angeblichen Iraker angeheuerte amerikanische Freaks aus Los Angeles, und das Ganze findet in einem Container-Dorf statt, in dem die Marines auf ihren Einsatz vorbereitet werden.

    Man fragt sich natürlich, wie Farocki an solche Orte vordringt und wie er eine Drehgenehmigung erhält. Das ist mühevoll, aber offenbar hat auch das US-Militär ein Interesse daran zu zeigen, wie sorgfältig es ausbildet ...

    Farocki begegnet der absurden durchkapitalisierten Welt mit formaler Strenge: Stets sind die Bilder aufeinander bezogen und kommentieren einander, und in der Gleichzeitigkeit mehrerer Leinwände entstehen "weiche Montagen", wie der Ausstellungs-Titel es nennt, die einen Teil der intellektuellen Mühen an den Zuschauer delegieren. Dabei kann Farocki ein unglaubliches Tempo anschlagen – wie bei der Montage von Walter Ruttmanns "Symphonie der Großstadt" mit Bildern heutiger Überwachungs-Kameras – oder auch zur Entdeckung der Langsamkeit verführen – wie bei den endlosen Aufnahmen zur vorindustriellen Ziegelsteinproduktion in Afrika und Indien.

    Das Kunsthaus Bregenz macht dem Künstler ein besonderes Geschenk: Im Sinne einer Filmbibliothek sind über 20 seiner Filme (aus allen Schaffens-Phasen) in der Ausstellung abrufbar; und hier kommt dann auch der andere, der humorvolle Farocki zum Tragen, der einen ganzen persönlichen Tagesablauf nur aus Werbespots zusammenbastelt oder die Anstrengungen dokumentiert, mit denen ein nacktes Mannequin im Playboy-Verlag zum Playmate des Monats hergerichtet wird. Aber das ist schon wieder so entfremdet, dass einem das Lachen im Munde schal wird.