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Zwischen Folter und Vergebung

Neun Geschichten über einen Mann, der von Haiti in die USA ausgewandert ist, auf der Flucht vor dem Regime. Äußeres Zeichen seines Opferschicksals ist eine lange Narbe. Jahre später erfährt seine Tocher, dass ihr Vater allerdings Täter war und nie ein Opfer.

Von Martin Zähringer | 20.01.2011
    Edwidge Danticat legt hier einen Sammelband mit neun Kurzgeschichten vor, der sowohl handlungsstark als auch intelligent reflektiert ist. Das verbindende Thema ist das Haiti der Duvalier-Diktatur von 1957 bis 1986. Vater und Sohn Duvalier, berüchtigt als Papa Doc und Baby Doc, werden darin nicht direkt genannt. Dafür aber ihre Folterknechte, die Tonton Macoutes, zu deutsch Onkel Menschenfresser. Diese hielten das Duvalier-Regime mit brutaler Repression, mit Mord und Folter aufrecht und trieben Hunderttausende ins Exil. Noch heute sorgen sie für Beunruhigung, denn die meisten sind untergetaucht. Edwidge Danticat erzählt nun die fiktive Geschichte eines Tonton Macoute in New York. Im Gegensatz zu den realen Folterern hat dieser sich schon früh aus Haiti abgesetzt. Er tauchte Anfang der 1970er Jahre in der großen haitianischen Exilgemeinde in Brooklyn unter, wo er jetzt ein Leben als geachteter Friseur führt. Seine Frau weiß Bescheid, die etwa 30-jährige Tochter jedoch nicht. Für sie ist der Vater ein absolutes Idol, in ihm sieht sie das Symbol des geschundenen Haiti. Sie hat ihn sogar als exklusives Modell für ihre Bildhauerei erwählt: in der tiefen Narbe in seinem Gesicht sieht sie die unauslöschliche Spur der erlittenen Folter. In der ersten Geschichte des Bandes reist sie mit dem Vater zu einer Sammlerin, im Gepäck eine ihrer Plastiken:

    "Eine 90 Zentimeter große Mahagonifigur meines Vaters, nackt, auf einem 15 auf 15 Zentimeter großen Sockel, sein Rücken gekrümmt wie die Sichel des Mondes, die gesenkten Augen auf seine langen Finger und großen Hände gerichtet. Es wäre übertrieben, sie weltbewegend zu nennen, eher primitiv, kaum ausgearbeitet, bestenfalls minimalistisch, und doch war sie mir unter all meinen Versuchen, meinen Vater darzustellen, der liebste. So stellte ich ihn mir als Häftling vor."

    Eine Vorstellung, die bald brutal korrigiert wird. Eines Morgens versenkt der Vater die Plastik in einem See und eröffnet seiner Tochter schließlich, dass er nicht der Gejagte war, sondern der Jäger. Er hat also mit der Skulptur zugleich die große Lebenslüge zerstört. Es wird noch dauern, bis die Tochter die ganze Wahrheit ihres eigenen Familiendramas verstehen kann. Doch das Buch erfährt einen großen Teil seiner Spannung aus dem poetischen Prozess der verzögerten Aufklärung, in dem die Vater-Tochter-Geschichte neben weiteren Erzählungen in versetzten Etappen erscheint.

    Gleichzeitig spannt die Autorin den Bogen der historischen Ermittlung weiter.
    Eine andere Geschichte führt in die Bergdörfer Haitis. Dort will ein junger Exilant aus Brooklyn seiner in Haiti lebenden Tante berichten, dass er endlich den Feind gefunden hat. Den Mann, der seine Eltern erschossen, die Tante lebensgefährlich verletzt und ihn selbst als Kind mit einem Gewehr bedroht hat. Der Täter ist der Friseur. Doch auch hier spielt die Autorin nicht einfach mit einem kriminalistischen Motiv. Es geht nicht darum, den Mörder zu schnappen. Interessanter ist die Einführung vergangenheitspolitischer Fragen, die das nationale Problem der Tonton Macoutes literarisch verhandeln. In diesem Fall ist es die Frage der Rache. Der junge Mann hatte sich eines Nachts Zutritt zum Schlafzimmer des Friseurs verschafft:

    "Er schaute auf das Gesicht des Friseurs hinab, das über die Jahre schmal geworden war, und der Wunsch, ihn zu töten, erlosch. Nicht, weil er Angst hatte, in diesem Augenblick fühlte er sich mutig, furchtlos. Es war auch nicht Mitleid. Er war zu wütend, um Mitleid zu haben. Es war etwas anderes, etwas, das sich nicht greifen ließ. Es war die Furcht, den falschen Mann zu verletzen, die falsche Frau zur Witwe und das falsche Kind zur Waise zu machen. Es war die Erkenntnis, dass er niemals wissen würde warum - warum einem einzigen Menschen die Macht gegeben worden war, sein ganzes Leben zu zerstören."

    Auch die moralische Gleichung von Opfer und Täter führt nicht viel weiter, denn sie existieren seit Jahrzehnten im gleichen Raum. Wie in der Familie des Friseurs, so in der Exilgemeinde Brooklyns und natürlich in Haiti selbst. Die Verständigung über Schuld und Sühne ist entsprechend schwierig. Das spiegelt sich auch im Konzept des offenen Erzählraumes. Der wiederum entspricht einer räumlich zersplitterten Nation, in der permanent Austauschbewegungen stattfinden. Dennoch bleiben die Protagonisten in ihren subjektiven Horizonten gefangen, vor allem aber in den sozialen Krisen von Armut und Gewalt. Oder in der Religion. Im letzten Kapitel ruft ein Priester - ein isolierter Einzelkämpfer - zum Widerstand auf. Und noch während ihn die Tonton Macoutes umzingeln, beschwört er biblische Parolen vom Leviathan:

    "Er stellte sich gern vor, wie das ganze Land schrie: "Was tun mit unserem Ungeheuer?", aber stattdessen schien jeder herumzulaufen und das abgesegnete Nationalgebet zu flüstern, das der Präsident selbst geschrieben hatte: "Unser Vater im Nationalpalast, geheiligt werde dein Name. Dein Wille geschehe, wie in der Hauptstadt, so in der Provinz. Unser neues Haiti gib uns heute und vergib uns unsere unpatriotischen Gedanken, aber vergib nicht den Landesverrätern, die auf unser Land spucken und sich dagegen versündigen. Laß sie an der Last ihres eigenen Giftes zugrunde gehen. Und erlöse sie nicht von dem Bösen."

    Vom Bösen werden sie wirklich nicht erlöst. Es beherrscht - davon berichten weitere Geschichten in diesem Buch - noch immer die traumatisierten Opfer und ihre Angehörigen. Auch den Leser lassen die Tonton Macoutes nicht so leicht los. Denn das wirkungsästhetische Zentrum dieses Buches bleibt die Folter. Der Friseur tritt in seiner großen Rolle als Folterknecht in der letzten Geschichte auf, und da so das Zentrum des haitianischen Horrors wieder auf den Anfang verweist, bleibt der Leser selbst in seinem Kreislauf des Schreckens befangen. Dennoch ermöglicht Edwidge Danticat in ihrer literarischen Suchbewegung, die ständig neue Perspektiven und Fragmente der Geschichte erzeugt, erhellende Einblicke in einen großen historischen Zusammenhang.

    Edwidge Danticat: Der verlorene Vater. Aus dem amerikanischen Englisch von Susanne Urban. Edidion Büchergilde. 239 Seiten.