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Zwischen oligarchischer Machtelite und demokratischem Anspruch

Seit der Finanzkrise 2008 wächst die US-Wirtschaft wieder. Doch 93 Prozent der Profite gingen seitdem an das oberste Prozent der Steuerzahler. Nicht zuletzt durch Lobbyarbeit hat die kleine Gruppe der Superreichen enormen Einfluss auf das politische Geschehen, während die Interessen der Mittelschicht kaum berücksichtigt werden.

Von Matthias Kolb | 25.12.2012
    Die Zahlen sind eindeutig: Seit Mitte der neunziger Jahre stagniert das Durchschnittseinkommen in Amerika bei einem Wert von etwa 50.000 Dollar. Es ist die Mittelschicht, die von den Folgen der Finanzkrise 2008 besonders hart getroffen wurde. Die US-Regierung rettete Banken mit Steuergeldern, pumpte Billionen in den Markt und verhinderte so eine schlimmere Rezession. Nun wächst die US-Wirtschaft wieder, doch 93 Prozent der Profite gingen seither an das oberste Prozent der Steuerzahler. An solche Werte hat sich Jacob Hacker, Politik-Professor an der Universität Yale, gewöhnt. Dass es einer kleinen Elite so gut gehe, liege am Steuersystem:
    "Wir hatten früher ein sehr progressives Steuersystem in Amerika. Die Superreichen mussten mehr zahlen als die Wohlhabenden. Heute sind die Steuersätze für die Superreichen extrem niedrig: Die Steuerbehörde IRS hat berechnet, dass die 400 reichsten Amerikaner in den 90er-Jahren im Schnitt 30 Prozent Einkommensteuer bezahlt haben – 2007 lag der Wert bei 16,5 Prozent. Was bedeutet dies konkret? Jeder der 400 reichsten Steuerzahler behält 46 Millionen Dollar pro Jahr für sich. Hier geht es nicht um Kleingeld."

    Wie viele Amerikaner glaubt Hacker daran, dass ein gewisses Maß an Ungleichheit Innovationen hervorbringen kann und Menschen motiviert. Doch ihn beunruhigen jene Statistiken, wonach die Chancen für sozialen Aufstieg mittlerweile in Westeuropa höher sind als in der Heimat des "American Dream". Der Yale-Professor weiß, dass etwa Globalisierung und technischer Fortschritt dazu führen, dass die Schere zwischen Arm und Reich weltweit aufgeht. Doch Hacker argumentiert in seinem mit Paul Pierson veröffentlichten Buch "Winner-takes-it-all-Politics", dass die Abgeordneten in Washington für die Entwicklung mitverantwortlich sind.

    "Es fing in den 70er-Jahren an, als Amerikas Konzerne begannen, viel Geld in Lobbyarbeit zu investieren. Sie haben eigene Denkfabriken aufgebaut, um das Meinungsklima zu verändern. So erklärt sich, dass sowohl Republikaner als auch Demokraten Deregulierung und Steuersenkungen unterstützen. Heute gibt es in Washington ein riesiges Ungleichgewicht zwischen jenen Gruppen, die sich mit hohen Summen Gehör verschaffen können und jenen, denen das Geld fehlt."

    Im Wahlkampf 2012 gaben Barack Obama und Mitt Romney jeweils mehr als eine Milliarde Dollar aus. Die Abgeordneten verbringen mehr als die Hälfte ihrer Zeit damit, Spenden einzuwerben. Dies bietet Lobbyisten genug Gelegenheit, für die Anliegen ihrer reichen Klienten zu werben. Der Politologe Jeffrey Winters spricht prägnant von einer "Wohlstandsverteidigungsindustrie" aus PR-Leuten, Steuerberatern und Anwälten. Und nach einem Urteil des Obersten Gerichtshofes können Privatpersonen und Firmen seit 2010 unbegrenzt Geld in Wahlkampagnen pumpen. Mit hohen Spenden versuchten viele Multimillionäre einen Sieg von Obama zu verhindern, erklärt die Finanzjournalistin Chrystia Freeland:

    "Das Ausmaß der Feindseligkeit gegenüber Obama hat mich wirklich umgehauen. Im Silicon Valley hat mir ein erfolgreicher Investor vor laufender Kamera Folgendes gesagt: Wer heute in Amerika reich ist, gehört einer bedrohten Minderheit an. Wir werden ähnlich schlecht behandelt, wie es bei manchen ethnischen Minderheiten der Fall war. Der Präsident sollte sich dafür schämen – gerade er weiß doch, wie sich das anfühlt."

    Für ihr Buch "Plutocrats" hat Freeland viele amerikanische Milliardäre interviewt. Sie hat lange darüber nachgedacht, weshalb diese Männer Obamas Forderung, den Steuersatz für reiche Amerikaner von 35 Prozent etwas anzuheben als Aufruf zum "Klassenkampf" interpretieren – sie würden in diesem Fall ja keineswegs verarmen.

    "In den letzten dreißig Jahren, seit der Präsidentschaft von Ronald Reagan wurde in Amerika Wohlstand mit Tugend gleichgesetzt. Viel Geld zu verdienen wurde als Dienst an der Gesellschaft angesehen. Dass jemand ein Vermögen angehäuft hat, macht ihn zu einer guten Person. Der Präsident stellt diese Weltsicht in Frage. Er sagt: Diese Art von Wirtschaft schadet der Mittelklasse."

    Viele Plutokraten klagen darüber, dass Obama und dessen Wähler ihnen den nötigen Respekt verwehren, sagt Freeland, die lange für die "Financial Times" gearbeitet hat. Freeland berichtet von einem Gespräch, dass sie mit Foster Friess führte – jenem Multimillionär, der den Wahlkampf des ultrakonservativen Rick Santorum fast alleine finanzierte:
    "Als ich Foster Friess gefragt habe, ob die Reichen höhere Steuern zahlen sollten, sagte er: ‘Sie verstehen nicht, wie sich die Reichen selbst besteuern.’ Es sei viel befriedigender, selbst zu entscheiden, welche Projekte man mit Spenden unterstütze. Aber dieses Konzept birgt doch Probleme: Ich fürchte, dass nicht allzu viele freiwillig Geld zahlen würden, um das Abwassersystem zu erhalten. Und Demokratie bedeutet theoretisch doch, dass der Staat Steuern erhebt und wir Bürger entscheiden, wofür wir das Geld ausgeben."
    Chrystia Freeland ist auch nach Romneys Niederlage überzeugt: Ein Umdenken der Superreichen ist nicht im Gange. Jacob Hacker freut sich, dass Obama nun die Krankenversicherungspflicht durchsetzen und so die Lage für die Mittelklasse verbessern könne. Das heutige System sei nicht tragfähig:

    "Wir haben noch immer eine starke Wirtschaft, aber wir fallen in vielen Bereichen zurück, die eigentlich von einer guten Ökonomie profitieren sollten. Es gibt erschreckend viel Armut hier, die Lebenserwartung sinkt in den USA, was an der Fettleibigkeit liegt, die wir nicht effektiv bekämpfen. Die Infrastruktur bröckelt und wir investieren zu wenig in die Zukunftsfähigkeit unseres Landes. Wir essen die Saatkörner auf anstatt sie auszusäen."

    Serie im Überblick:
    Clash of Cultures - Neue Kulturkonflikte