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Zwischen Orient und Okzident

Ist es nicht unglaublich? Man hat mich immer für einen Netzbeschmutzer gehalten, dabei habe ich nur versucht, das Spektrum der spanischen Kultur zu erweitern, neue literarische Formen zu schaffen, indem ich mein Wissen über die verschiedenen literarischen Traditionen mit einfließen lasse. Wenn man mich daraufhin für einen Nestbeschmutzer oder Heterodoxen hält. Dabei wollte ich gar kein Nest beschmutzen und halte mich keinesfalls für einen Heterodoxen, sondern sehe mir die spanische Kultur und Literatur nur ohne Scheuklappen an.

Von Margrit Klingler-Clavijo | 29.09.2004
    Der vermeintliche Nestbeschmutzer ist der spanische Schriftsteller Juan Goytisolo. Von ihm sind nun in der Edition Suhrkamp eine Reihe von Aufsätzen und Zeitungsartikeln erschienen, die er in den letzten zwanzig Jahren geschrieben hat und die häufig zuerst in der spanischen Tageszeitung EL PAIS erschienen sind. Während der spanische Titel dieses Sammelbandes provokativ den Nestbeschmutzer aufgreift, hat man die deutsche Ausgabe Gläserne Grenzen. Einwände und Anstösse genannt. So wurde – wer mit der Literatur des hispanischen Sprachraums wenig vertraut ist, vermag dies vielleicht nicht auf Anhieb nachvollziehen – die Brücke zu dem mexikanischen Schriftsteller Carlos Fuentes geschlagen. In seinem Roman Die gläserne Grenze kritisiert dieser vehement die Abschottung der USA gegenüber Mexiko und dem übrigen Lateinamerika und hält eine leidenschaftliches Plädoyer für offene Grenzen, eine Kultur des Austausches und der Vermischung.

    Goytisolos Aufsätze und Artikel sind in drei Themenkomplexe gegliedert: Der Islam und der Westen, die Einwanderungsproblematik und Globalisierungsphänomene. Goytisolo besitzt die Fähigkeit, komplexe Zusammenhänge anschaulich zu schildern, stets auf dem Hintergrund seiner eigenen Erfahrungen eines wissbegierigen und neugierigen Nomaden zwischen Okzident und Orient. Sein innerer Leitfaden: Freiheitsdrang, Sprachkritik, Respekt vor dem Anderen, Infragestellen der eigenen Person und Kultur. Wie der im letzten Jahr verstorbene palästinensische Intellektuelle Edward Said, der in den USA lehrte, ist Goytisolo mit beiden Welten vertraut und genau wie der von ihm hochgeschätzte Said kritisiert er sowohl den Westen als auch die islamische Welt.

    Auf dem Hintergrund der unheilvollen Nahostpolitik der USA sind Goytisolos 1990 und 1991 verfasste Artikel über den Golfkrieg hochaktuell, zeugen sie doch von prophetischer Weitsicht und analytischer Schärfe.

    Klare Worte findet er auch zum israelisch- palästinensischen Konflikt, über den er sich mehrmals vor Ort ein Bild gemacht hat. So folgte er bei seinem letzten Palästinabesuch einer Einladung des Dichters Mahmud Darwish und gehörte mit Wole Soyinka, Breyten Breitenbach, José Saramago, Russel Banks, etc. zu einer Delegation des europäischen Schriftstellerparlaments. Dokumentiert wurde dieser Besuch in dem Film Ecrivains des frontières - Schriftsteller der Grenzen von Sami Abdallah und José Reynes. Goytisolo zufolge ...

    ...wird es keinen Frieden geben, bis der Konflikt zwischen Palästina und Israel eine gerechte Lösung findet, d.h. Rückkehr zur internationalen Legalität. Ich habe stets unmissverständlich die Rückkehr zur internationalen Legalität gefordert, das heißt, es muss einen israelischen und palästinensischen Staat geben. Das habe ich stets sowohl gegenüber meinen arabischen wie meinen jüdischen Freunden vertreten. Glauben zu wollen, mit Gewalt, Ungerechtigkeit und Brutalität die Besatzung der Palästinensergebiete aufrechterhalten zu können, zeugt von Kurzsichtigkeit. Unter den israelischen Schriftstellern gibt es durchaus vernünftige Stimmen, wie etwa die von Amos Oz. Leider haben in der politischen Klasse Israels religiöse Extremisten das Sagen, die durchaus mit Hamas oder Dschihad Islamia vergleichbar sind. Jean Daniel, jüdischer Schriftsteller und Direktor des Nouvel Observateur hat es auf den Punkt gebracht, wenn er sagt: "Unter der Shoah gelitten zu haben, gibt uns nicht das Recht, uns anders als die Anderen zu verhalten." Ich halte das für einen bedenkenswerten Satz.

    Besorgt und erzürnt kommentiert Goytisolo die Einwanderungspolitik Europas, vor allem
    die Spaniens, wobei er daran erinnert, dass es gerade mal eine Generation her ist, dass etliche Spanier als Gastarbeiter nach Frankreich oder Deutschland gingen, was man in Spanien nicht
    mehr wahrhaben will. In Zeiten der Vollbeschäftigung erübrigte sich jener acht Kilometer lange "Sicherheitskordon, jener videoüberwachte Sperrgürtel", der mit Geldern der Europäischen Union in der spanischen Enklave Ceuta in Nordafrika errichtet wurde und der als Demarkationslinie zwischen den armen Ländern des Südens und dem vergleichsweise wohlhabenden Europa fungieren soll.

    Die Meerenge von Gibraltar ist heute ein Abgrund zwischen der ersten Welt und dem, was gnädigerweise sich entwickelnde Welt genannt wird. Hier geht es nicht nur um die marokkanische Jugend. Vielmehr wird hier der enorme demographische Druck ganz Afrikas spürbar: In der Umgebung von Tanger haben sich Tausende Subsaharianer in Höhlen versteckt und warten nur darauf, auf die andere Seite zu gelangen. Was sich da zu beiden Seiten der Meerenge von Gibraltar abspielt, geschieht in Mexiko am Rio Grande in Tijuana. Das ist dasselbe. Hier in dieser wunderbaren Meerenge ertranken in den letzten Jahren über 3.000 Menschen. In den USA sind Tausende gestorben, wobei die Coyotes, ihre Schlepper, sie verlassen haben, woraufhin sie in der Wüste verdurstet sind. Das sind die Grenzen zwischen der Welt der Wohlhabenden und der anderen Welt.

    Als Alternative zur Festung Europa macht Goytisolo zwei Vorschläge. Von Europa fordert er eine Einwanderungspolitik, die nicht von einer rigiden Ausländergesetzgebung bestimmt wird und die eine Integration in die jeweilige Gesellschaft und den Respekt der demokratischen Grundregeln gewährleistet.

    Heute ist viel von Multikulturalismus die Rede. Ich mag dieses Wort überhaupt nicht. Allein schon deshalb nicht, weil für mich Kultur die Vermischung aller äußeren Einflüsse ist, der sie ausgesetzt war. Es gibt keine homogene Kultur, nur Vermischung. Außerdem sollte man die schrittweise Integration fördern, Assimilationen sind undenkbar. Schließlich kann man aus einem Moslem keinen Christen machen.

    Genauer ansehen sollte sich Europa künftig, mit wem es zusammenarbeitet und wen es unterstützt. Gibt es da nicht eine unsäglich lange Liste von Diktaturen im Nahen Osten und in Afrika, die Europas Regierungschefs toleriert oder mit denen sie zusammenarbeiten?

    Afrika ist da das beschämendste Beispiel. Zuverlässigen Statistiken zufolge ist die Entwicklungshilfe der EU viel niedriger, als das, was Europa aus Afrika herausholt, wodurch sich das Ungleichgewicht nur noch vergrößert. Außerdem landet die Entwicklungshilfe in 80% der Fälle im Verwaltungsapparat der Entwicklungshilfegruppen und der Rest bei den jeweiligen Diktatoren, die es gleich wieder in London, Paris oder Genf anlegen. Es gibt kleine Fortschritte, die Unterstützung verdienen. So hat der König von Marokko den Status der Frau verändert. Das ist ein wichtiger Schritt, nur wird die soziale Umsetzung noch Jahre in Anspruch nehmen. Europa sollte seine Unterstützung an die Durchsetzung solcher Veränderungen knüpfen. Das wäre eine vernünftige Politik.

    Wem an einer demokratischen Globalisierung gelegen ist, einer differenzierten Analyse der komplexen Beziehungen zwischen der Welt des Islam und Europa und da hauptsächlich Spanien, sei die Lektüre von Juan Goytisolos Gläserne Grenzen. Einwände und Anstöße wärmstens empfohlen.

    Juan Goytisolo
    Gläserne Grenzen, Einwände und Anstöße
    Suhrkamp, 200S., EUR 10,-