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Zwischen Pantheismus und Atheismus

Kann es eine Religionsgemeinschaft geben, die alle konfessionellen Grenzen überschreitet? Was vor allem für Anhänger der großen Buchreligionen schwer vorstellbar ist, das versuchen die Unitarier zu verwirklichen. Sie sind eine weltweite Bewegung. Eine kleine Unitarier-Gemeinschaft gibt es auch in Deutschland.

Von Rainer Brandes | 29.10.2012
    Kann es eine Religionsgemeinschaft geben, die alle konfessionellen Grenzen überschreitet? Was vor allem für Anhänger der großen Buchreligionen schwer vorstellbar ist, das versuchen die Unitarier zu verwirklichen. Sie sind eine weltweite Bewegung. Eine kleine Unitarier-Gemeinschaft gibt es auch in Deutschland.

    "Wir glauben, dass alles, was ist, eine Ganzheit bildet."

    Dieser Satz findet sich in den sogenannten "Grundgedanken" der Deutschen Unitarier - einem Dokument, das zwar kein Glaubensbekenntnis ist, das aber die grundlegenden Glaubensinhalte und Prinzipien der Unitarier festhält, auf die sich alle Mitglieder einigen konnten. Und tatsächlich bildet die Aussage, dass alles, was ist, eine Ganzheit bildet, den Kern unitarischen Denkens. Daher auch der Name: "Unitarier": Das Wort leitet sich aus dem lateinischen "unitas" ab, was übersetzt "Einheit" bedeutet. Dahinter steckt die Idee, dass es keine Trennung zwischen einem Diesseits und einem Jenseits gibt. Stattdessen glauben Unitarier an allumfassende schöpferische Kräfte, die sich in allen Dingen äußern.

    "Viele Unitarier würden ihre Religion als eine Form des Pantheismus verstehen - also die Vorstellung, dass Gott und Welt untrennbar miteinander verbunden sind. Aber diese Unitarier würden auch nicht von Gott - dem Gott - sprechen, sondern sie würden eher sagen, es gibt schöpferische Kräfte, göttliche Kräfte."

    Dorothea Kaufmann ist Mitglied im geistigen Rat der Deutschen Unitarier Religionsgemeinschaft. Dieses Gremium ist unter anderem dafür zuständig, gemeinsame Glaubensüberzeugungen zu formulieren. An ihrer vorsichtigen Wortwahl wird deutlich: Unitarier kennen keine allgemeingültigen Lehrinhalte. Jeder Mensch ist dazu aufgerufen, seine eigenen religiösen Überzeugungen zu finden. Deshalb sind sich Unitarier auch uneinig, ob sie überhaupt den Begriff des Göttlichen verwenden möchten. In den Grundgedanken heißt es dazu:

    "In uns und um uns erfahren wir die gleichen schöpferischen Kräfte, die viele als göttlich erleben."

    Diese vage Formulierung ist bewusst so gewählt, erläutert Dorothea Kaufmann:

    "Dieses Erleben, sowohl in mir wie auch im Äußeren - man könnte auch sagen, so ein Mysterium, dass es überhaupt so was wie Leben gibt, das Geheimnis der eigenen Existenz - das können Menschen ja sehr intensiv erleben, ohne dass da direkt schon eine Deutung ist, dass das von Gott kommt, oder dass das unbedingt göttlich sein muss."

    Unitarischer Glaube kann sich also auf sehr unterschiedliche Art und Weise zeigen. Das gibt dem Gläubigen eine große Freiheit, seinen eigenen Weg zu finden. Gleichzeitig betonen Unitarier immer wieder, dass diese Freiheit auch eine große Eigenverantwortung mit sich bringe. Für Rüdiger von Gizycki war das vor fast 30 Jahren der Hauptgrund, sich den Unitariern anzuschließen:

    "Für mich war also sehr wichtig, dass ich selber die Verantwortung übernehme, für das, was ich fühle, was ich denke, und ich hab' dann auch schon gespürt, dass ich dafür auch selbst die Verantwortung übernehmen muss, für diese Dinge. Aber das heißt natürlich auch, wenn ich selber die Verantwortung übernehmen muss, dann muss ich auch frei sein und darf mir das nicht vorschreiben lassen - völlig gleichgültig, ob ich dabei Fehler mache oder nicht. Ich muss auch für mein Irren die Verantwortung übernehmen."

    Rüdiger von Gyzicki ist mit etwa 50 Gleichgesinnten am Hauptsitz der Deutschen Unitarier Religionsgemeinschaft in Kassel zusammengekommen, um Erntedank zu feiern. Die Unitarier kennen zwar keine Gottesdienste, dafür aber sogenannte Feierstunden - zum Beispiel für Feste im Jahreskreis, die alle Kulturen kennen. Die Verantwortung des Einzelnen steht auch während der Feierstunde im Mittelpunkt.

    "Es stellt dich jeder Morgen vor eine neue Tat. Besiege deine Sorgen und such' dir selber Rat."

    "Und such' dir selber Rat." Es ist diese Textzeile, die unitarisches Denken ausmacht. Hilfe von einem Gott erwarten Unitarier nicht. Eher suchen sie in ihren Feierstunden Denkanstöße in den religiösen Überlieferungen verschiedener Kulturen - oder auch in nicht-religiösen Texten wie Märchen oder Gedichten. Da kann schon mal ein Zitat aus dem Alten Testament neben einem Ausschnitt eines Brüder-Grimm-Märchens stehen.

    Diese Offenheit für religiöse Traditionen unterschiedlichster Kulturen prägten die Unitarier allerdings nicht von Anfang an. Ihren Ursprung haben sie in der Anti-Trinitarier-Bewegung des 16. Jahrhunderts. Denn obwohl damals die Leugnung der Trinität mit dem Tode bestraft wurde, bildeten sich in der Reformationszeit überall kleine Gruppen, die die Lehre der Dreieinigkeit von Vater, Sohn und Heiligem Geist infrage stellten. Stattdessen vertraten sie die Lehre eines einheitlichen göttlichen Wesens und nannten sich fortan Unitarier. Sie bezogen sich dabei einerseits auf die christlichen Arianer in der Spätantike, die schon im dritten und vierten Jahrhundert die Trinität abgelehnt hatten. Andererseits nahmen die frühen Unitarier Anleihen bei zeitgenössischen humanistischen Gelehrten wie Erasmus von Rotterdam und auch Michel Servet, der wegen der Leugnung der Trinität 1553 in Genf bei lebendigem Leib auf dem Scheiterhaufen verbrannt wurde.

    Die frühen Unitarier verbreiteten sich vor allem in Polen und Siebenbürgen im heutigen Rumänien, wo sie - anders als in weiten Teilen Europas - staatlich geduldet wurden. Auch in Nordamerika entstanden unitarische Gemeinden. Diese freiprotestantischen Unitarier verstanden sich ausdrücklich als Christen. Erst im 19. Jahrhundert lösten sich vor allem in den USA einige unitarische Gemeinden mehr und mehr von der christlichen Religion. Davon ließen sich in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts deutsche freiprotestantische Gemeinden in Rheinhessen beeinflussen. Dorothea Kaufmann:

    "Ein damaliger Pfarrer, der Pfarrer Walbaum, hat dann Anfang des 20. Jahrhunderts auf einer internationalen Tagung amerikanische Unitarier kennengelernt, war sehr beeindruckt und hat ganz viel Gemeinsamkeit festgestellt, weshalb er der Gemeinschaft den Untertitel 'Deutsche Unitarier' gegeben hat."

    Spätestens seit dem Ende des Zweiten Weltkrieges verstehen sich die Deutschen Unitarier ausdrücklich nicht mehr als christliche Religionsgemeinschaft. Das hat sie allerdings in den Nachkriegsjahren attraktiv gemacht für völkisch orientierte Anhänger einer neo-germanischen Religion, die bereits während der NS-Zeit versucht hatten, Einfluss auf die Unitarier zu gewinnen. Die Anhänger dieser Strömung sahen die Unitarier in der Tradition eines angeblich "artgemäßen" europäisch-germanischen Religionsverständnisses im Gegensatz zum asiatisch-afrikanischen Denken des Christentums. Diese rassistische Ansicht vertrat die langjährige Vizepräsidentin der Deutschen Unitarier Religionsgemeinschaft, Sigrid Hunke, noch Mitte der 70er-Jahre. Auch wenn diese völkische Strömung nie die Mehrheit unter den Unitariern stellte: Zum endgültigen Bruch mit ihr kam es erst 1989, als die völkisch-orientierten Mitglieder aus der Gemeinschaft austraten und einen eigenen Verband gründeten. Seither hat sich die Deutsche Unitarier Religionsgemeinschaft mehrfach offiziell von dieser Gruppe und deren Gedankengut distanziert. Dorothea Kaufmann:

    "Ich verstehe das so, dass nach dem Zusammenbruch des Dritten Reiches ja insgesamt in Deutschland eine große Not war und das betraf sowohl diejenigen, die vielleicht schon frühzeitig erkannt haben, dass der Nationalsozialismus zu großen Verbrechen geführt hat, aber auch natürlich bei denen, die daran geglaubt haben und die jetzt ja auch nach neuen Sinndeutungen gesucht haben. Und da gab es eben natürlich auch solche, die an dieser grundsätzlichen völkischen Ausrichtung noch festgehalten haben."

    Zuletzt haben sich die Deutschen Unitarier im Jahr 2011 in einer Erklärung unmissverständlich von allen völkischen und rassistischen Ideen distanziert. Damit knüpfen sie an ihre wichtigsten drei Leitsätze an, die Unitarier seit der Zeit der Aufklärung vertreten: Gebrauch der Vernunft, persönliche Freiheit und Toleranz gegenüber Andersdenkenden. Damit lehnen sie auch Missionsarbeit ab, erklärt Dorothea Kaufmann:

    "Missionieren, da würde man ja im engeren Sinn drunter verstehen, Menschen, die womöglich schon eine Einstellung haben, die versuchen abzuwerben. Also, das ist uns völlig fremd, denn uns geht es ja genau darum, dass jemand zu seiner eigenen Religiosität findet. Und wenn jemand zum Beispiel ganz eng mit dem christlichen oder einem muslimischen - oder wie auch immer - Religionsverständnis verbunden ist, dann läge uns nichts ferner als den davon abzubringen."