Donnerstag, 28. März 2024

Archiv


Zwischen Patriotismus und Nationalismus

Seit der WM 2006 in Deutschland werden Fußballturniere zu Massenspektakeln. Hunderttausende feiern das deutsche Team beim Public Viewing, sie singen die Nationalhymne und schwenken schwarzrotgoldene Flaggen.

Von Ronny Blaschke | 17.06.2012
    Dieser kollektive Rausch wurde 2006 als Entdeckung eines "unverkrampften Patriotismus" beschrieben, in einem Land, das sich wegen seiner Geschichte schwer tut mit nationalen Symbolen. Auch im letzten Gruppenspiel gegen Dänemark werden sich wieder Millionen Deutsche vor dem Fernseher mit ihrer Mannschaft verbunden fühlen. Doch ist die Nationalelf tatsächlich eine Metapher für harmlosen Nationalstolz? Oder kann dieses Gruppengefühl auch zu Abgrenzung von anderen führen?

    Wilhelm Heitmeyer gehörte zur kleinen Gruppe der Spielverderber. Seit Jahrzehnten untersucht der Bielefelder Gewaltforscher die Abwertungsmuster gegenüber Minderheiten. Auch er hatte die Atmosphäre während der WM 2006 genossen, doch an eine neue Mentalität der Deutschen glaubte er nicht. Heitmeyer und sein Team investierten nach dem Turnier in Forschungen. Sie wollten herausfinden, ob die Fremdenfeindlichkeit durch den Partysommer gesunken war.
    "Und dann zeigte sich, dass zum Teil fremdenfeindliche Attitüden sogar noch, nicht sonderlich, doch noch zugenommen hatten. Das war ein Rausch, ein schöner Rausch, und dann kommt der Alltag und dann hat sich gar nichts verändert."

    Wilhelm Heitmeyer zieht eine Parallele zum WM-Sieg der Franzosen 1998 im eigenen Land.

    "Danach hat die französische Presse auch getönt, das ist jetzt ein anderes Frankreich. Und die hatten ja nun wahrlich eine bunte Mannschaft, eine farbige Mannschaft im wahrsten Sinne des Wortes. Und danach ging der Rassismus weiter wie bisher."

    Was passiert da alle zwei Jahre, wenn aus einem Turnier ein kollektiver Taumel wird? Die Berliner Psychologin Dagmar Schediwy hat den Fußballpatriotismus aus sozialpsychologischer Perspektive untersucht. In ihrem Buch "Ganz entspannt in Schwarz-Rot-Gold?" geht sie zurück bis zur Arthur Schopenhauer, von ihm stammen die Sätze:

    "Die wohlfeilste Art des Stolzes ist der Nationalstolz. Denn er verrät in dem Behafteten den Mangel an individuellen Eigenschaften, auf die er stolz sein könnte. Jeder erbärmliche Tropf, der nichts in der Welt hat, ergreift das letzte Mittel, auf die Nation stolz zu sein."

    Dagmar Schediwy spannt den Bogen von Schopenhauer bis zu Theodor Adorno. Adorno verknüpfte Nationalstolz mit einem kollektiven Narzissmus. Er sah den Mangel nicht im Individuellen des Menschen, sondern in dessen Gesellschaft. In Zeiten von Wirtschaftskrise und Arbeitsplatzmangel sei die kollektive Identität ein Ausgleich für Schädigung und Selbstzweifel. Doch wie lassen sich diese Ansätze auf den heutigen Fußballpatriotismus übertragen? Der Berliner Philosoph Gunter Gebauer gilt als einer der Vordenker im deutschen Sport.

    "In einem Europa, in dem die Nation mehr oder weniger zu verschwinden droht. Wir sind ökonomisch total verflochten mit anderen Ländern. Aber das Gewicht des Nationalstaats, wegen der EU-Verflechtung, wegen der weltwirtschaftlichen Verflechtung, aber auch dem Zusammenrücken der Globalisierung insgesamt immer weniger wahrnehmbar ist."

    Gebauer möchte den Fußball nicht mit dem Begriff Patriotismus aufladen. In einem zusammenwachsenden Europa ist der Wettstreit zwischen Nationalteams auch eine Reminiszenz auf kulturelle Eigenheiten, auf Sprache, Verfassung, Normen, kurz: auf das Gemeinwesen.

    "Das wiederum kann sich kristallisieren in einer Mannschaft, die so geartet ist, dass man das Gefühl hat: Ja, das ist unsere Mannschaft. Indem man es wiedererkennt, heißt es ja: ich gehöre dazu, oder die gehören zu uns. Und ich glaube, so ein sehr zurückhaltendes, aber doch innerlich spürbares Zusammengehörigkeitsgefühl macht sich auch bemerkbar, wenn es um die deutsche Fußballmannschaft geht."

    Ist es uneingeschränkt harmlos, wenn Hunderttausende in schwarzrotgold durch die Straßen strömen? Patriotismus ist die emotionale Verbundenheit mit der eigenen Nation. Nationalismus ist ein übersteigertes Wertgefühl, das auf Abgrenzung von anderen Nationen zielt. Der Fußball begünstigt diese Abgrenzung, schreibt der Berliner Sozialwissenschaftler Gerd Dembowski: Mannschaft A gegen Mannschaft B, Sieg oder Niederlage, Wir oder die Anderen. Fans, Spieler, Funktionäre identifizieren sich auch über Unterschiede und Rivalitäten zu ihren Gegnern. Der Freiburger Sportwissenschaftler Diethelm Blecking hat vielfach zu diesen Fragen publiziert.

    "Und deshalb glaube ich nicht, dass der Sport ein Mittel ist zur Überwindung von nationalen Konflikten, sondern eher eins, diese – wenn es gut geht – friedlich auszuleben. Denken Sie mal an die Spiele Italien gegen Slowenien in Triest, kann man nicht organisieren, muss abgebrochen werden. Denken Sie an Frankreich gegen Algerien in Paris, musste auch abgebrochen werden. Der Sport kann in bestimmten Momenten unausgetragene nationale Konflikte forcieren."

    Kann die Gruppenekstase auf den deutschen Fanmeilen dazu führen, Mitglieder fremder Gruppen abzuwerten? Bewusst oder unbewusst? In jedem Fall versuchen auch Rechtsextreme den Rausch für sich zu nutzen. 2006 hatte sich der Schutzbund Deutschland gegen den schwarzen Stürmer Gerald Asamoah gestellt, Zitat:"Nein, Gerald, du bist nicht Deutschland, du bist BRD." Auf einem T-Shirt wurde vor dem Vorrundenspiel der Deutschen gegen Polen folgende Botschaft verbreitet: "1939 wurde Polen in 28 Tagen besiegt, 2006 reichen 90 Minuten." Diethelm Blecking fordert, auch solche Erscheinungen nicht außer Acht zu lassen, wichtig sei Differenzierung.

    "So sind auch die Gemeinschaften, die der Sport schafft, flüchtig. Und viel eindrucksvoller fand ich 2010. Als diese wunderbare migrantische Mannschaft dieses elegante Spiel aufgezogen hat. Und die Leute wirklich hingerissen waren. Und drei Wochen später sahen wir die Bücherstapel von Herrn Sarrazin in den Läden liegen. Und es sind dieselben Leute gewesen, die Sarrazin gekauft haben und diese Ethnisierung und Biologiesierung von sozialen Unterschieden gelobt haben."

    Alle Beiträge zur UEFA EURO 2012