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Zwischen Tanzwut und Naturgewalten

Leiterin Christiane Winter des Nachwuchsfestivals hat in Kooperation mit Staatsballettchef Jörg Mannes ein cleveres Format entwickelt, um junge Choreografen in die Profi-Szene einzubinden. Für ihr Künstlerresidenzprogramm "Think Big" haben sie wie im vergangenen Jahr eine gute Wahl getroffen.

Von Andreas Berger | 02.09.2013
    Der bassig ausgreifende Anfangston dringt auch den Zuschauern bis tief in den Magen. Die Tänzer stehen mit dem Rücken zum Publikum. "Unknowing" heißt die Uraufführung von Matthias Kass. Noch wissen wir nichts von ihnen. Aus fast unmerklichen Zuckungen einzelner Glieder entwickeln sie roboterhafte Abläufe wie beim Hip-Hop. Knapp nur schnellt die Hüfte heraus, bald rudern Ellenbogen in der Luft, Finger deuten in den Raum.

    Mit der weiter aufschrillenden Musik kommt es zu Rempeleien im Vorübergehen, Umarmungen, die Tänzer rollen, knien, springen sich an, werden Mensch. Kass nutzt alle räumlichen Ebenen mit voller Dynamik. Wenn der krasse Ton am Ende wieder dröhnt, schauen die Tänzer uns an. Jetzt kennen wir sie. In der Arbeit, im Erkunden, Ausweichen und Steigern, haben sie für sich und uns an Klarheit gewonnen.

    Auf Kass folgen noch zwei weitere Nachwuchskünstler bei "Think Big", dem Residenzprogramm des Festivals Tanztheater international in Hannover. Die drei Jung-Choreographen durften dabei mit diesmal neun Tänzern ihrer Wahl in den Probenräumen des Staatsopernballetts ihre Visionen verwirklichen. Das ist groß gedacht für Künstler, die in der freien Szene mit kleinen Bühnen und sparsamer Besetzung auskommen müssen. Zum zweiten Mal gibt es das Residenzprogramm "Think Big" bei Tanztheater international. Leiterin Christiane Winter hat da in Kooperation mit Staatsballettchef Jörg Mannes ein cleveres Format entwickelt, um den Nachwuchs aus der Szene einzubinden.

    Und wie im vergangenen Jahr haben sie eine gute Wahl getroffen. Denn auch der Zweite des Abends, der Japaner Shumpei Nemoto, überrascht in seinem Stück "A Notion of the Tides" mit erstaunlichen minutiösen Bewegungsfindungen. Zu eher sphärischer Musik geht es bei ihm um die Balance, die etwa im Schreiten das Verharren mitdenken lässt. Und so sehen wir eine Gruppe, die den nächsten Schritt im Vollzug immer nochmal vor- und zurückwiegt. Zeitlupen, in denen wir jeden Muskel einzeln im An- und Entspannen zu erkennen glauben. Traumwandlerisches Unterlaufen des gestreckten Partnerbeins, als würden zwei Soli zugleich gezeigt. So entstehen abstrakte Bewegungsqualitäten, die der Choreograph in späteren Stücken wird auch erzählerisch nutzen können.

    Die Dritte, Maura Morales, lässt die Tänzer in "El Baile de San Vito" (zu Deutsch: Veitstanz) in langen Hemden toben, die an Zwangsjacken, Nachthemden und barocke Rüschenkleider denken lassen. Das historische Phänomen der Tanzwut in sozialen Krisen ist ihr Thema, doch hier denkt man eher an Chimären, die der Solist aus dem Schleudern seines Kopfes entfesselt. Und die dann mal barocke Schreittänze andeuten, mal hospitalistisch mit den Gliedern wackeln und sich zuletzt gegenseitig niederringen. Das hat eine gute Dynamik, bleibt aber auch etwas Kostümshow, da die soziale Lage, das Asozial-Antigesellschaftliche des Veitstanzes nicht miterzählt wird.

    Das Festival brachte am Eröffnungswochenende auch die Begegnung mit Rachid Ouramdanes Pariser Compagnie und seinem neuen Stück "Sfumato", das die Flucht vor Naturkatastrophen zum Thema nimmt. Aus den Sfumato-Nebeln alter Landschaftsmaler taucht da eine Tänzerin auf, die in grandios beschleunigter Drehbewegung über die Bühne wirbelt. Dazu erzählt eine Frau von ihrer Angst vor Wirbelstürmen.

    Es kommt zum Wolkenbruch, zu dem ein Tänzer auf der geschwemmten Bühne im Wunsch standzuhalten halsbrecherisch seine Glieder verknotet. Und während eine Frau von der Tsunami-Welle spricht, lehnt sich ein Tänzer hintenüber, als wollte er ihr ausweichen, überschlägt sich, hechtet und rollt in einem Überlebenstanz, der schon beim Zuschauen den Atem raubt. Und der doch auch das Sfumato-Gefühl vom Geheimnis der Naturgewalt nährt, die nachher im Dampfschleier über den Wassern neues Leben zu versprechen scheint. Wunderbar, wie Ouramdane hier die Analyse des Klimawandels ins Menschliche spiegelt und in Energie und ganz große Gefühle zu bannen vermag.