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Zwischen Theater und Sozialarbeit
"Aufführung mit therapeutischen und sozialen Nebenwirkungen"

Es sei selbstverständlich, dass das Sprechtheater auf große Themen wie die Flüchtlingsproblematik reagiere, sagte der Intendant des Frankfurter Schauspiels, Oliver Reese, im DLF. Wenn Kunst nicht instrumentalisiert werde, sondern die Freiheit habe, dann verschwimmen die Grenzen zu sozialer oder politischer Arbeit.

Oliver Reese im Gespräch mit Dina Netz | 02.07.2016
    Oliver Reese spricht im Roten Rathaus in Berlin (1. Dezember 2014)
    Oliver Reese, Intendant des Frankfurter Schauspiels, will eine Kunst mit "sozialen und therapeutischen Nebenwirkungen" (picture alliance / dpa / Britta Pedersen)
    Dina Netz: Die Methode von Christian Stückl ist also eine Möglichkeit, am Theater auf gesellschaftliche Aktualität einzugehen: Man sucht in alten Texten Bezüge zum Heute. Man kann auch, wie viele Schauspielhäuser es im Moment tun, mit Flüchtlingen arbeiten oder zumindest über sie. Die deutschen Sprechbühnen sind jedenfalls so engagiert wie lange nicht mehr, wenn es um soziale Fragen geht.
    Und der Intendant des Schauspiels Frankfurt, Oliver Reese, hat heute sogar zwischen Vertretern von Arbeiterwohlfahrt, Caritas und Diakonie beim Hessischen Sozialforum einen Vortrag gehalten, Thema: "Soziale Ungleichheit aus der Perspektive des Theaters". Ich habe ihn gefragt: Herr Reese, warum spricht ein Theaterleiter über soziale Ungleichheit?
    Oliver Reese: Tja, da müssen Sie das hessische Forum fragen.
    Netz: Aber Sie haben sich ja darauf eingelassen.
    Reese: Ja! Ich habe mich darauf eingelassen, weil ich finde, dass wenn wir von der Kunst und vom Theater schon mal von der echten Wirklichkeit da draußen, vom wahren Leben gebeten werden, etwas zu sagen, dann kann man sich dem nicht verweigern, und insofern habe ich mir ein bisschen Mühe gegeben. Und das ist, ehrlich gesagt, in Frankfurt nicht so schwer, Dinge aufzuschreiben, denn in dieser Stadt, da erlebt man eine ganze Menge, wenn es um das Thema arm und reich geht: Ziemlich krass klaffende Gegensätze, auch sehr viele Erfahrungen in der Theaterarbeit mit den allerunterschiedlichsten sozialen Gruppen. Insofern, glaube ich, war ich gar nicht so falsch am Platze und der große Applaus der Zuschauer nach einer dreiviertel Stunde Speech gibt mir, glaube ich, auch ein bisschen Recht.
    Netz: Das ist jetzt nun eher die Ausnahme, dass ein Theaterleiter eine dreiviertel Stunde einen Vortrag über soziale Ungleichheit hält. Wie kann denn Theater sonst auf gesellschaftliche Umbrüche reagieren? Das dauert ja immer so ein Weilchen, bis Stücke geschrieben und Spielpläne konzipiert sind.
    "Als Theater spielt man ja nicht nur Theaterstücke"
    Reese: Na ja. Als Theater spielt man ja nicht nur Theaterstücke, ehrlich gesagt. Seit ich Intendant eines der größten Stadttheater in Deutschland bin, weiß ich um die Möglichkeiten, die man mit so einem Haus hat. Wir haben hier jedes Jahr einmal Thementage, bei denen wir zum Beispiel fünf, sechs Tage lang zu einem Thema Gastspiele, Panels, Workshops, unsere eigenen Stücke fokussieren.
    Das war einmal die Erinnerung an 70 Jahre Befreiung des Lagers Auschwitz, dann waren es digitale Welten, nächste Spielzeit wird es sein die Erfindung Europas. Da kann man ein Thema setzen in einer Stadt. Viele Theater machen, was wir auch tun, nämlich eine künstlerische Arbeit mit Jugendlichen, ein junges Schauspiel gründen, das alles und Stücke spielen wie zum Beispiel eine Uraufführung, die Falk Richter für uns gerade erfindet, die Proben haben begonnen, kommt nächsten Oktober raus. Das Stück heißt "Safe Places" und geht mit den Orten und Unorten an den Grenzen Europas um.
    Netz: Herr Reese, Stichwort Flüchtlinge. Es ist ja auffällig, wie stark die Sprechbühnen auf die aktuelle gesellschaftliche Lage, vor allem auf die Flüchtlingssituation reagieren, mit Stücken, aber auch mit Projekten, die außerhalb des Theaters liegen. Was meinen Sie, warum ausgerechnet die Schauspielhäuser da so engagiert sind? Künstler anderer Sparten sind da ja deutlich zurückhaltender.
    Kein "deutschtümelndes Bildungsgut auf die Bühne hieven"
    Reese: Das stimmt. Unsere Gesellschaft hat ja mit der Flüchtlingsproblematik ein großes, quasi alle mitnehmendes Thema gefunden, fast ein bisschen zwangsweise gefunden, und ich denke, dass das Theater bewiesen hat, dass es nicht nur anständig "Wer hat Angst vor Virginia Woolf?" oder "Die Physiker" oder "Maria Stuart" spielen kann und will, sondern dass, wenn eine ganze Gesellschaft diskutiert und wir gewärtigen müssen, dass eine Partei wie die AfD an den rechten Rändern, obwohl sie überhaupt keine vernünftigen Spitzenpolitiker hat, unglaubliche Zugewinne macht, und vom Theater erwartet, dass man auf eine reaktionäre Art und Weise ein deutschtümelndes Bildungsgut auf die Bühne hievt, in Zeiten, in denen solche Debatten sich fokussieren, da ist es doch selbstverständlich, dass das Sprechtheater reagiert.
    Netz: Und was können Sie dann erreichen, Herr Reese? Denn letztlich ist es ja schon so, dass Theater mit ihren Stücken ein Publikum ansprechen, das grundsätzlich eher schon einverstanden ist. Es ginge ja eigentlich darum, eine gesellschaftspolitische Debatte anzustoßen, die weit übers Theater hinausgeht.
    Reese: Da haben Sie vollkommen Recht. Aber Falk Richter hat ja zum Beispiel an der Schaubühne in Berlin immerhin einen veritablen Prozess der AfD gegen seine Aufführung "Fear" provoziert und er hat Recht bekommen. Plötzlich ging es um die Freiheit der Kunst.
    Wir erleben in Ländern, in denen die rechten Parteien an der Regierung beteiligt sind, dass Künstler, Theaterleute drangsaliert werden, Stücke verboten werden, Aufführungen beantragt werden müssen, Künstler gar ins Gefängnis kommen, kritische Berichterstattung verboten wird. Also wir müssen schon verdammt wachsam sein und von daher dürfen Sie uns bitte nicht in die Ecke stellen derjenigen, die so wirkungslos da was in ihren Spielstätten vom Zaune brechen.
    Kunst sei kein "Schmiermittel der Kulturpolitik"
    Netz: Und wo ist dann, wenn Sie von Projekten mit Flüchtlingen zum Beispiel sprechen, die Grenze zwischen Kunst und Sozialarbeit, oder, wenn sie wie heute einen Vortrag halten, zwischen Kunst und politischer Äußerung?
    Reese: Ist doch schön, dass es keine so klare Grenze gibt. Kunst kann ja eine ganze Menge. Das Entscheidende ist für mich nur, dass Kunst nicht müssen muss. Ich finde es ganz falsch, wenn man von der Kunst gewissermaßen verlangt, wenn man sie instrumentalisiert, wenn man sie sei es als Wirtschaftsfaktor, sei es als, wie es hier in Frankfurt durch unseren Oberbürgermeister geschehen ist, Schmiermittel der Kulturpolitik definiert. Da wehre ich mich. Wenn Sie verlangen, dass Kunst dieses und jenes leisten muss, dann ist sie geradezu nicht mehr in der Lage. Wenn sie die Freiheit hat, die sie braucht, dann verschwimmen die Grenzen und dann finde ich es total richtig, dass ein Intendant vor einem Sozialforum spricht und dass eine Aufführung, wenn Sie so wollen, auch geradezu therapeutische und soziale Nebenwirkungen hat.
    Netz: Oliver Reese, Intendant am Frankfurter Schauspiel, über Risiken und Nebenwirkungen des Theaters.
    Äußerungen unserer Gesprächspartner geben deren eigene Auffassungen wieder. Der Deutschlandfunk macht sich Äußerungen seiner Gesprächspartner in Interviews und Diskussionen nicht zu eigen.