Freitag, 29. März 2024

Archiv


Zwischen Verrat und Hass

Jedermann kennt Robert Louis Stevensons unverwüstlichen Klassiker "Die Schatzinsel" und "Dr. Jekyll und Mr. Hyde". Einer seiner weniger bekannten Werke ist der Roman "Der Master of Ballantrae" von 1889, der jetzt, kommentiert und mit einem aufschlussreichen Nachwort versehen, in einer Neuübersetzung auf Deutsch erschienen ist.

Von Klaus Modick | 07.02.2011
    "Ein klarer, harter Kristall, ein Werk von unbeschreiblicher und unerreichter Kunst."

    Derart verzückt äußerte sich der Romancier Henry James nach der Lektüre von Robert Louis Stevensons "Der Master von Ballantrae", und James hatte offensichtlich sehr tief in den klaren, harten Kristall hineingeschaut und sich nicht von dessen oberflächlichem Funkeln blenden lassen. Rafft man nämlich den Inhalt der Geschichte stichwortartig zusammen, könnte leicht der Eindruck entstehen, es mit einer Mischung aus wüster Historienkolportage und sentimentalem Melodram zu tun zu haben. Erzählt wird der lebenslange Kampf zweier ungleicher Brüder aus dem schottischen Hochadel zur Zeit des schottischen Bürgerkriegs, aber die Handlung greift bis nach Frankreich, Indien und Amerika aus. Es geht um Liebe und Hass, Treue und Verrat, Edelmänner und Schurken, Heldentum und Feigheit, Piratenüberfälle und Schatzsuchen, Indianer auf dem Kriegspfad, indische Fakire und noch allerlei mehr bunte Requisiten aus dem Fundus trivialer Abenteuerromane. Auch das Personal wirkt auf den ersten Blick holzschnittartig und der Bruderzwist nahezu platt. Denn einer der Brüder ist ein charismatischer, schillernder, faszinierender Draufgänger, Abenteurer und vor allem diabolischer Bösewicht, während der andere ein besonnener, rechtschaffener, behäbiger Langeweiler und Gutmensch ist. Sie kämpfen um die Gunst des Vaters, um die Liebe der gleichen Frau und um das Familienerbe, und sie kämpfen wie zwei ineinander verbissene, tollwütige Hunde bis zum Tod. Dass und wie es Stevenson jedoch gelingt, dieser pittoresken, vor kaum einer Unwahrscheinlichkeit zurückschreckenden Gemengelage nicht nur höchste Spannung, sondern überzeugende Glaubwürdigkeit und psychologische Plausibilität abzugewinnen, ist eine erzählerische Meisterleistung, eine literarische "Erfindung allerersten Ranges", wie Bertolt Brecht bewundernd vermerkte. Denn Stevensons romantisches, balladenhaftes Spiel mit trivialen Mustern fußt auf einem Realismusbegriff, den er selbst folgendermaßen umriss:

    "Der Realismus, den ich schätze, ist ein Realismus des Denkens: dass nicht nur alles an einer Geschichte sich ereignet haben könnte, sondern auch ganz selbstverständlich aufgezeichnet worden sein könnte - ein Realismus, der sowohl das Buch selbst rechtfertigt als auch die Geschichte, die es festhält."

    Es geht also um eine literarische Plausibilität, die alle Unwahrscheinlichkeiten durch die Form des Erzählens bändigt, einleuchtend, bündig und zwingend macht. In einem Essay für die "Weltbühne" hat Lion Feuchtwanger 1926 Stevensons raffinierte Erzähltechnik analysiert.

    "Das Bild der beiden Männer, ihrer Taten, ihres Kampfes, wird von Anfang an gebrochen dadurch, dass die Erzählung einem gewissenhaften, beamtenhaften, philiströsen Sekretär in den Mund gelegt ist, der den wackeren Mittelmäßigen liebt und den glänzend begabten Bösen hasst. Es ist meisterlich, ein Kunstbeispiel ganz großer Epik, wie durch diesen Kunstgriff Licht und Schatten verteilt, Neigung und Gegenneigung ausgewogen werden und wie dann ganz sacht der Leser darüber unterrichtet wird, dass Mund und Feder des Berichterstatters nicht ganz objektiv seien, wie durch fast unmerkliche Belichtung der Quellen der Eindruck höchster Sachlichkeit erzielt wird. Es wird dem Leser gezeigt, wie ein schlechter Mann von großem Format und ein wackerer Mann von mittlerem Format und ein sehr wackerer Mann von subalternem Format sich in gewissen Situationen verhalten, und die Stellungnahme dazu wird durchaus dem Leser überlassen."

    Der Kunstgriff, einen durch und durch diabolischen, aber in seiner Bösartigkeit faszinierenden Charakter aus der Sicht eines durchschnittlichen, peniblen Langeweilers zu erzählen und damit perspektivisch zu brechen, ohne moralinsauer werden zu müssen, machte Schule: Sogar Thomas Mann berief sich auf Stevensons "Master von Ballantrae" für die Konstruktion seines "Doktor Faustus". - Stevenson selbst bezeichnete das Buch übrigens nicht als Roman, sondern wählte die merkwürdige Gattungsbezeichnung "Eine Wintergeschichte". Im ersten Moment mag das nur wie ein weiterer romantischer Manierismus erscheinen, erweist sich bei genauerem Hinsehen jedoch als treffende Charakteristik von Stevensons hoch entwickeltem Stilbewusstsein. In einem Vorwort berichtete er von der Entstehung des Buchs. 1887 hielt er sich in einem Lungensanatorium in Saranac im Staat New York auf.

    "Es war Winter; die Nacht war sehr finster; die Luft war außerordentlich klar und kalt und von köstlicher Waldesfrische. Weit unten hörte man den Fluss mit Eis und Felsbrocken kämpfen; einzelne Lichter waren zu sehen, ungleichmäßig in der Dunkelheit verstreut, doch so weit entfernt, dass sie den Eindruck der Einsamkeit nicht minderten. Das waren gute Voraussetzungen für das Verfassen einer Geschichte.'Auf' sagte ich zu meiner Maschine, 'lass uns eine Geschichte verfassen, die viele Jahre und Länder umspannt, Land und Meer, Barbarei und Zivilisation'."

    Die Grundidee war also ein unverhofftes Geschenk der Winteratmosphäre, doch ist es überaus bezeichnend für den klugen Stevenson, dass er im Augenblick der Inspiration nicht etwa der Muse dankt, sondern seine "Maschine" anwirft, jene kühl kalkulierende Rationalität, die sein gesamtes Werk auszeichnet und seine abenteuerlichen, durchaus romantischen Stoffe mit glasklarem, um nicht zu sagen: eis klarem Realismus austarierte und plausibel machte. "Der Master von Ballantrae", dessen Handlung mehrere Jahrzehnte umspannt, spielt natürlich nicht nur im Winter, aber von besonderer Eindringlichkeit und Bedeutung sind hier eben doch die Winterszenen. Im Zentrum des Buchs steht ein dramatisches, mitternächtliches Degenduell der feindlichen Brüder, das Gilbert Keith Chesterton in einem fulminanten Essays über Stevenson subtil analysiert hat:

    "Die Beschreibung betont nicht die Finsternis der Nacht, sondern die Strenge des Winters, die unbewegte Luft im Bann der Eiseskälte, die Kerzen, die so gerade stehen wie die Dolche, die Kerzenflammen, die fast so kalt wirken wie die Sterne. Eine stählerne Kälte versteift und verfestigt das klirrende Spiel der Klingen, und dies nicht nur im materiellen, sondern auch im moralischen Sinn. Diese mörderische Szene ist durchdrungen von etwas unbenennbar Reinem, Salzigem, Gesundem, und allem zum Trotz ist der weiße Raureif für die Kerzen eine kalte Läuterung wie eine Art Lichtmess."
    Die Klarheit und stilistische Wahrhaftigkeit solchen Erzählens, der Verzicht auf Prätention und pseudopoetische Schnörkeleien, die Stevensons Werk bis heute frisch hält, hat diesem Autor ein großes Publikum verschafft und zugleich die Bewunderung zahlreicher Schriftsteller wie etwa Feuchtwanger:

    "Stevensons natürliche, kluge Anschaulichkeit ist ein Gradmesser für die innere Vernunft eines Inhalts. Etwas Unanständiges, Krummes, Dummes kann in dieser Luft nicht aufkommen. Atmet sie, lest Stevenson!"

    Und Walter Benjamin beendete 1934 einen Brief an Werner Kraft mit Worten, denen nichts hinzuzufügen ist:

    "Ehe ich schließe, will ich Sie noch auf ein wenig bekanntes Buch hinweisen, das ich vor kurzem las und das ich an Bedeutung für mich über fast alle großen Romane stelle. Es ist 'Der Master von Ballantrae' von Stevenson. Verschaffen Sie sich das, wenn Sie können."

    Robert Louis Stevenson: Der Master von Ballantrae, Herausgegeben u. aus dem Englischen übersetzt von Melanie Walz, Mare Verlag, Hamburg, 2010, 352 Seiten, Euro 29,90