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Zwischen westlichem Kapitalismus und südamerikanischem Sozialismus

In vielen lateinamerikanischen Staaten wird der westliche Kapitalismus als Grund dafür gesehen, dass die soziale Gerechtigkeit geradezu skandalöse Ausmaße erreicht hat. Anders als in Kuba damals versuchen sich inzwischen viele Staaten an einer demokratischeren Form des Sozialismus.

Von Victoria Eglau | 04.01.2013
    Er verkörpert wie kein anderer den neuen lateinamerikanischen Sozialismus: Venezuelas Präsident Hugo Chavez – Hoffnungsträger für die einen, Hassfigur für die anderen. 2005 erwähnte Chavez zum ersten Mal seine Idee vom Sozialismus des 21. Jahrhunderts. Inzwischen ist darüber viel politische Literatur veröffentlich worden, unter anderem das auch auf Deutsch vorliegende Buch "Den Sozialismus neu denken – gibt es ein Leben nach dem Neoliberalismus?" von Atilio Borón.

    "Die Aktualität des Sozialismus hängt damit zusammen, dass die Übel des Kapitalismus fortbestehen. Das System Kapitalismus besitzt eine enorme Fähigkeit, Reichtum zu generieren, und eine enorme Unfähigkeit, diesen Reichtum gerecht zu verteilen. Diese soziale Ungerechtigkeit hat ein geradezu skandalöses Ausmaß erreicht."

    Brasilien, Mexiko oder Argentinien hätten schon vor einem Jahrhundert als Länder der Zukunft gegolten – und täten dies heute immer noch, schreibt der linke argentinische Wirtschaftswissenschaftler. Schuld an der Unterentwicklung Lateinamerikas: der Kapitalismus, ist Atilio Borón überzeugt.

    "Natürlich haben sich diese Länder verändert, ihre Wirtschaft ist gewachsen und hat sich zum Teil modernisiert. Aber die soziale Kluft in ihren Gesellschaften ist immer tiefer geworden. Lateinamerika hat eine Menge Probleme: Analphabetismus, Hunger, Kriminalität, soziale Auflösungserscheinungen. Ich denke also, wir müssen eine andere Formel ausprobieren."

    Sozialistische Experimente sind nicht neu in Lateinamerika. Einen demokratischen Weg zum Sozialismus, anders als in der Sowjetunion und auf Kuba, versuchte Anfang der siebziger Jahre Chiles Präsident Salvador Allende. Seine Regierung endete brutal mit einem Militärputsch, gefolgt von einer 16-jährigen Diktatur. Auch der Sozialismus des 21. Jahrhunderts sei demokratisch und habe mit Einheitspartei und Planwirtschaft nichts zu tun, betont Atilio Borón:

    "Im Sozialismus des 21. Jahrhunderts ist das Wirtschaftssystem viel flexibler und vielfältiger. Zwar gibt es planwirtschaftliche Elemente, die unverzichtbar sind, aber keine totale Verstaatlichung. Diverse Eigentumsformen sind möglich: von Kooperativen über kapitalistische Firmen bis zu Staatsunternehmen."

    Präsidenten mit sozialistischen Ideen regieren heute etwa in Venezuela, Ecuador und Bolivien. Brasilien und Uruguay haben Regierungen eher sozialdemokratischen Zuschnitts. Beide Strömungen seien Reaktionen auf die sozialen und wirtschaftlichen Verwerfungen des Neoliberalismus, sagt auch der argentinische Soziologe Carlos Altamirano.

    "In einigen Regierungen vereinigen sich traditionelle sozialistische Elemente mit Elementen des lateinamerikanischen Populismus. Neu ist ihre Radikalität. Die tiefe Krise dieser Länder nach einem Jahrzehnt neoliberaler Politik ebnete das Terrain für das Erscheinen linker politischer Caudillos: charismatischer Führer, die sich direkt an das Volk wandten und sich scharf von den Schuldigen der sozialen Misere abgrenzten."

    Nicht mit der Doktrin, sondern mit der populistischen Führungsfigur steht und fällt der neue lateinamerikanische Sozialismus. Soziologe Altamirano setzt ein großes Fragezeichen hinter das Fortbestehen des politischen Projekts von Hugo Chavez, falls dieser seiner Krebserkrankung erliege. Eine Verwirklichung sozialistischer Utopien im klassischen Sinne kann er in Venezuela nicht erkennen:

    "Chavez’ Sozialismus ist zusammengebastelt aus sozialistischen und peronistischen Elementen, Castrismus, Nationalismus und Staatsinterventionismus. Statt von sozialistischer Politik würde ich eher von Umverteilungspolitik sprechen. Ich glaube nicht, dass das Entwicklungsmodell Venezuelas heute ein anderes ist als vor 15 Jahren. Nach wie vor hängen die Entwicklungsmöglichkeiten dieses Landes vom Erdöl-Export ab."

    Immerhin: in den linksregierten Staaten Lateinamerikas fließt mehr Geld aus Rohstoff-Exporten in Sozialpolitik als früher. Es gibt weniger Armut, eine beginnende Reichtums-Umverteilung und mehr Bürgerrechte. Mehr als eineinhalb Millionen Venezolaner lernten innerhalb weniger Jahre Lesen und Schreiben, laut Unesco hat das Land heute kein Analphetismus-Problem mehr. Chavez, der Bolivianer Evo Morales mit seiner "Bewegung zum Sozialismus" und der Ecuadorianer Rafael Correa, Erfinder der "Bürgerrevolution", polarisieren ihre Länder. Von großen Teilen des Volkes werden sie glühend verehrt, in anderen Gesellschaftsschichten stoßen sie – nicht zuletzt wegen ihrer konfrontativen Rhetorik – auf heftige Ablehnung.

    "Vor allem die liberal-konservativen Schichten sehen den Aufstieg dieser Politiker als Herausforderung, als Bedrohung ihrer Privilegien. Das Phänomen der linkspopulistischen Regierungen betrachten sie als anormal, als abwegig. Ich glaube, man kann den Erfolg dieser Regierungen neuen Stils nur durch die riesige soziale Ungerechtigkeit in Lateinamerika erklären. Und dadurch, dass ihre Politik viele Bedürfnisse der armen Schichten befriedigt hat."

    Die Serie im Überblick:
    "Clash of Cultures" - Neue Kulturkonflikte
    Genossen und Verbündete: Boliviens Präsident Evo Morales (l.) und Ecuadors Präsident Rafael Correa
    Genossen und Verbündete: Boliviens Präsident Evo Morales (l.) und Ecuadors Präsident Rafael Correa polarisieren ihre Länder. (picture alliance / dpa / Paolo Aguilar)