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Zwischenmenschliche Schrecken

Vergnügen mit Bosheit bereitet Patrick Hamilton den Lesern seines Romans "Sklaven der Einsamkeit". Kurz nach dem Zweiten Weltkrieg erschien er in England und wurde jetzt ins Deutsche übersetzt.

Von Alain Claude Sulzer | 25.08.2006
    Ein Krieg ist nicht erfreulich. In ständiger Angst vor feindlichen Angriffen zu leben, ist alles andere als unterhaltsam. Sich an verordnete Verdunkelung zu halten und mit Dutzenden weiterer Beschneidungen leben zu müssen, macht keinen Spaß. Unerträglich, ja qualvoll aber ist es, in solchen eingeschränkten Zeiten in einer Pension zu leben, wo man seinen Mitmenschen auf Gedeih und Verderb ausgeliefert ist, besonders dann, wenn man fürs "kleinstädtische Pensionsleben in einem Weltkrieg nicht gemacht" ist. Und wer wäre das schon? In einer Pension, die mehr Ähnlichkeit mit der Hölle als mit einem Hotel hat, ist Patrick Hamiltons Roman "Sklaven der Einsamkeit" angesiedelt - und mitten im Zweiten Weltkrieg.

    Krieg und Pension - ein Synonym? Wer diesen Roman liest, der kurz nach dem Zweiten Weltkrieg erstmals in England veröffentlicht wurde, gewinnt genau diesen Eindruck. Und wenn kein Synonym dann eben die Klammer, die sich dahinter schließt und in der sich die erdenklichsten zwischenmenschlichen Schrecken dichter drängen als sonstwo. Das ist mit Sicherheit genau der Eindruck, den der 1904 geborene, 1962 an den Folgen seines ausgeprägten Alkoholkonsums verstorbene englische Autor erzielen wollte. Der Nüchternheit seiner Beobachtungsgabe konnte der Whisky, den er nach eigener Aussage "brauchte wie ein Auto das Benzin", allerdings nichts anhaben.

    Der Krieg ist furchtbar (weil nichts zu haben, und was zu haben, von schlechter Qualität ist), aber was könnte schrecklicher sein als sein Mahl gemeinsam mit den anderen Pensionsgästen des "Rosamund Tea-Room" in Thames Lockdon einzunehmen, jener fiktiven, aber sehr realistischen Kleinstadt in der Nähe von London, wohin Miss Roach gezogen ist, nachdem ihr Zimmer - zu mehr hat sie es auch dort nicht gebracht - in der Hauptstadt ausgebombt wurde? Gewiss, gerade im Kriegsfall kennt man den Feind, aber er bleibt anonym, keiner ist genötigt, ihm in der Enge eines muffigen Speisezimmers gegenüberzusitzen, er bleibt in der Luft oder zur See, so gefährlich er auch ist, keiner sieht sich gezwungen, seine Gegenwart in Form sich immer wiederholender Monologe über sich ergehen zu lassen. Während der anonyme Feind den vom Zufall abhängigen Tod in Form von Bomben am Himmel mit sich trägt, sitzt einem der feindliche Pensionsgast als unausweichliches Fatum persönlich gegenüber. Seine Geschosse sind nicht tödlich, meist aber zielgerichteter und zielgenauer als die des namenlosen deutschen Jägers.

    Der Feind heißt hier Mr. Thwaites und lässt nichts aus, Miss Roach, die ihm nichts getan hat, das Leben zur Hölle zu machen. E spielt mit offenen Karten, verbirgt sich nicht hinter der Maske des biederen Bürgers, seine Gemeinheit ist ganz unverstellt. Dass Miss Roach ihm keinen Anlass dazu gegeben hat, sie, ausschließlich sie zu verfolgen, macht ihre Situation nur umso aussichtsloser, ihre Gegenwehr gibt bestenfalls Anlass zu neuen Aggressionen seinerseits. Ohnmächtig ist sie ihm ausgeliefert. Vor diesem Feind gibt es kein Entrinnen in den Luftschutzkeller; er würde einem ja dorthin folgen. Kurz gesagt: Wenn das Leben in einer Pension schon in Friedenszeiten unerträglich ist, um wie vieles unerträglicher muss es dann im Krieg sein?

    Warum Mr. Thwaites ausgerechnet Miss Roach zur Zielscheibe seines seine Umgebung enervierenden Spottes gewählt hat, erfahren wir nicht; er würde es selbst nicht wissen wollen. Jedenfalls entgeht ihm keine Bewegung der intelligenten und zurückhaltenden, freundlichen, unkomplizierten, vielleicht auch etwas langweiligen Verlagsangestellten, aus deren Blickwinkel Hamilton seine Geschichte hauptsächlich erzählt; mit dem Unterschied allerdings, dass Hamilton sich bissiger Repliken nicht enthält, während Miss Roach sich - bis auf einen einzigen, geradezu dramatischen Ausbruch gegen Ende des Romans - so vornehm wie nur möglich zurückzuhalten weiß, was Thwaites zu immer neuen Provokationen reizt.

    Mehr als zwei Handlungsorte gibt es in diesem Roman im Grunde nicht (wenn wir vom dunklen Kinosaal absehen, in dem Miss Roach ihre ersten und fast schon letzten Intimitäten mit jenem amerikanischen Soldaten tauscht, den der Krieg - endlich scheint er auch mal etwas Positives bereitzuhalten - nach Thames Lockdon gespült hat). Zwei Orte, an denen sich alle immer wieder versammeln, um Miss Roach das Leben schwer, beziehungsweise etwas leichter zu machen: die Pension und das "River Sun", eine stets gut besuchte Kneipe, in der sich das provinzielle Gesellschaftsleben den Anschein von Geselligkeit gibt, in welches sich am Ende selbst Mr. Thwaites zu stürzen versucht, mit den verheerenden Folgen, die der Alkohol für jene bereithält, die ihn weniger regelmäßig - das heißt morgens, nachmittags und abends - konsumieren als etwa jener amerikanische Soldat, der nicht nur Miss Roach, sondern - wie sich noch herausstellen wird - vielen weiteren Frauen die Ehe im fernen Amerika versprochen hat; Versprechen, die natürlich nicht gehalten werden.

    Als einigermaßen trinkfest hingegen erweist sich Vicki Kugelmann, eine zu Unrecht unter Spionageverdacht stehende Deutsche, deren einziges, vor keiner Gemeinheit zurückschreckendes Verbrechen in der bauernschlauen Art besteht, in der sie sich Mr. Thwaites zum Freund macht, mit dessen Hilfe sie Miss Roach - deren Freundschaft sie sich erschlichen hat - auszustechen hofft. War Thwaites ein rostiges Schießgewehr, entpuppt sich Vicki Kugelmann als hochexplosive V-Waffe, deren Miss Roach hilflos ausgeliefert ist.

    Die Kriegshandlungen beginnen im selben Augenblick, da Vicki ebenfalls in die Pension einzieht; doch schon ihre früheren Beziehungen zu Miss Roach hätten als das erkannt werden können, was sie waren: erste Feindberührungen auf allerdings neutralem Boden. Die Kampfhandlungen auf dem alles andere als neutralen Schlachtfeld der Pension, erweisen sich als kaum weniger angriffig - wenn auch nicht blutig - als jene, die sich am Himmel über London abspielen. Dass die beiden unversöhnlichen Frauen aus ihren Herzen keine Mördergruben machen, dafür sorgt Hamilton. Wer, ja, ob überhaupt jemand den Sieg davontragen wird, sei an dieser Stelle nicht verraten. Das Vergnügen, dies selbst zu erfahren, bleibe dem diebisch sich vergnügenden Leser überlassen.

    Bliebe vielleicht noch die Frage zu klären, ob Hamilton mysogin war oder nur einfach seinen Spaß daran hatte, zu zeigen, wie es ist, wenn Frauen nichts anderes übrig bleibt, als jedes Wort der Konkurrentin auf die Goldwaage ihrer Empfindsamkeit zu legen. Angesichts der Tatsache, dass die Männer in seinem Roman kaum besser wegkommen als die andere Hälfte der Menschheit, lässt Zweifel aufkommen, ob er den Menschen überhaupt besonders wohlgesonnen war. Mit den Lesern allerdings muss Patrick Hamilton es herzlich gut gemeint haben, denn mehr Vergnügen kann man mit schierer Bosheit nicht bereiten. Dass diese den Weg vom Englischen ins Deutsche gefunden hat, ohne Schaden zu nehmen, verdankt sich der glänzenden Übersetzung von Miriam Mandelkow.