Donnerstag, 28. März 2024

Zwölf Mal Deutschland
Barbarossaland

Eine sagenhafte Hügelkette zwischen Thüringen und Sachsen-Anhalt - und eine Region, die nach der Wende hart auf die Probe gestellt wurde: Das ist der Kyffhäuserkreis. Auf dieser Etappe haben die Deutschland-Wanderer nichts geplant und niemanden angerufen. Auf stillgelegten Gleisen, querfeldein und mitten im Dorf haben sie eine Gegend erkundet, die heute wieder Arbeit, aber keine Fachkräfte hat. In einer Höhle im Kyffhäuser schläft seit vielen hundert Jahren auch Kaiser Barbarossa - so will es die Legende. Die Fakten sind andere: Sein offizieller Todestag war genau heute vor 825 Jahren, am 10. Juni 1190.

Von Jörg-Christian Schillmöller (Text) und Dirk Gebhardt (Fotos) | 06.06.2015
    Blick über das Kyffhäuser-Land - vom Denkmal hinunter ins Tal
    Blick über das Kyffhäuser-Land - vom Denkmal hinunter ins Tal (Dirk Gebhardt)
    Drei Soldaten und ein Bergwerk: die ersten Eindrücke am Bahnhof von Sondershausen. Es ist Freitag Mittag und Frühsommer im Kyffhäuser. Die drei Soldaten tragen Uniform, sie sind um die 20 und warten auf den Zug nach Hause. In Sondershausen bildet die Bundeswehr Feldwebel und Unteroffiziere aus. Bis 2013 war hier das Raketenartilleriebataillon 132 stationiert, Einsatzort unter anderem Afghanistan.
    Hinter dem Bahnhof von Sondershausen steht das alte Kali-Bergwerk
    Der Bahnhof von Sondershausen - Startpunkt der siebten Etappe (Dirk Gebhardt)
    Bis heute gibt es eine Patenschaft zwischen dem Stützpunkt und dem Dörfchen Berka ein paar Kilometer weiter. Dort, auf dem Sportplatz, haben die Bürger 50 Soldaten feierlich in den Einsatz verabschiedet, damals, im Jahr 2008. An einem der Eingänge zum Platz hängt ein gelbes Schild: "Mazar-e-Sharif 4.669 km" steht darauf. Wir werden in ein paar Stunden per Zufall nach Berka geraten. Noch aber stehen wir am Bahnhof von Sondershausen und der Kyffhäuser ist Neuland für uns.
    Die Vergangenheit einer Industrielandschaft
    Direkt hinter dem Bahnhof liegt das alte Bergwerk, auch das ein Teil der Geschichte. "Petersenschacht" steht in großen Buchstaben auf dem blau gestrichenen Förderturm, der aus wuchtigen, weißen Gebäuden mit roten Dachziegeln emporragt. Sondershausen war eine der wichtigsten Kaligruben der DDR. Mehrere tausend Menschen arbeiteten dort. Und fast ebenso viele in der Elektroindustrie.
    Kaliwerk "Glückauf" und VEB Elektroinstallation Sondershausen: Nach der Wende wurden die Betriebe geschlossen, verkauft, aufgelöst, eine ganze Region wurde arbeitslos. Noch vor zehn Jahren lag die Quote hier im Kyffhäuserkreis bei 25 Prozent. Heute sind es rund elf Prozent. Die Stadtkasse in Sondershausen ist leer. Der Kontrast zum wohlbehüteten Eichsfeld, durch das wir vorher gewandert sind, ist groß.
    Wir laufen los, wir sind zu dritt. Michael Hoeldke ist aus Berlin angereist, er ist gelernter Organist, Musiker und Autor. Unser erster Wandergast, ein sympathischer Endfünfziger mit Tropenhut und Turnschuhen. Die Sonne scheint, wir setzen die Rucksäcke auf, wir wollen von Sondershausen nach Bad Frankenhausen und weiter zum Kyffhäuser-Denkmal.
    Wanderte zwei Tage mit: der Berliner Michael Hoeldke
    Wanderte zwei Tage mit: der Berliner Michael Hoeldke (Dirk Gebhardt)
    Das Kartenprogramm schickt uns einen Hügel hinauf. Rechterhand eine gealterte Garagen-Landschaft. Brauner Spritzputz, die Türen aus Holz. Linkerhand eine Schrebergarten-Kolonie: Graswege, Gemüse, Maschendraht. Über einer der letzten Hütten weht eine Palästinenser-Flagge. Wir rufen "Hallo, ist da jemand?" Der Mann mit dem blondweißen Pferdeschwanz ist nicht unfreundlich, aber wortkarg. "Da oben kommen sie nicht durch", sagt er. "Da ist Schießgebiet". Das wusste das Kartenprogramm nicht.
    Irrwege im Unterholz
    Ein paar Meter weiter kommt schon die Schranke. Betreten verboten, Zuwiderhandlungen werden strafrechtlich verfolgt. Hier üben die Feldwebel- und die Unteroffiziersanwärter, die wir am Bahnhof gesehen hatten. Wir suchen nach einem Weg am Rande des Schießplatzes. Es gibt keinen. Dorniges Unterholz, hohes Gras, eine tiefe Schlucht. Wir fühlen uns wie in einer Kurzgeschichte von Kafka.
    15 Minuten später stehen wir wieder vor den Garagen. Von dem Mann mit dem Pferdeschwanz wissen wir, dass die Menschen hier am Wochenende die Tore aufmachen und in Kleingruppen Bier trinken. Das klingt gut, aber heute ist Freitag. Wir steigen den Hügel wieder hinunter und biegen ab auf die Hauptstraße. 19 Kilometer bis nach Bad Frankenhausen.
    Die stillgelegte Bahntrasse von Sondershausen nach Bad Frankenhausen
    Die stillgelegte Bahntrasse von Sondershausen nach Bad Frankenhausen (Dirk Gebhardt)
    Der Verkehr ist dicht, und nach kurzer Zeit endet der Bürgersteig. In der Nähe soll es eine stillgelegte Bahntrasse geben. Kurz darauf wandern wir unbeholfen auf Betonschwellen, der Abstand ist zu eng für den menschlichen Schritt. Die Schienen sind längst abgeschraubt, im braunen Kies liegen schneeweiße Schneckenhäuser. Es ist eine Wanderung durch die Vergangenheit. Wir erreichen eine baufällige Brücke, kommen an einem rostigen Bagger und einem riesigen Speichergebäude vorbei. Überall wachsen Brombeeren und Brennesseln, die Sonne ist jetzt heiß, ein Reh springt auf.
    Dem Landkreis fehlen die Mütter um die 30
    Endlich stoßen wir durchs Gebüsch. Wir sind am ehemaligen Bahnhof von Berka. 890 Einwohner, ein Großteil davon 60plus. Viele junge Leute - und vor allem die Frauen - haben die Region vor mehr als einem Jahrzehnt in Richtung Westen verlassen. Sie fanden nach der Ausbildung keine Arbeit mehr, und heute fehlen dem Kyffhäuserkreis die Mütter um die 30. Die Lage hat sich umgekehrt: Es gibt wieder Stellen, aber es gibt keine Fachkräfte.
    Nachmittags in Berka. An den Häusern hängen blauweiße Wimpel. Wir fragen im "Dorfkrug" nach, die Wirtin ist freundlich und heißt Kerstin Dabberdt. "Hier ist morgen Dorffest, wir feiern 50 Jahre Frauenchor". Dürfen wir hier nach der Feier auch schlafen? "Na klar", sagt Kerstin Dabberdt und lacht. "Wir sperren sie einfach in der Gaststube ein". Wir beschließen, am nächsten Tag wiederzukommen und mit Berka zu feiern.
    "Und wenn die alten Raben noch fliegen immerdar..."
    Das Kyffhäuserland ist Barbarossaland. Irgendwo unter einem der felsigen Hügel schläft Kaiser Rotbart, das tut er schon lange. Alle 100 Jahre blickt sein Knappe hinaus und schaut sich um: Kreisen die Raben noch um den Berg? Friedrich Rückert dichtete dazu. "Und wenn die alten Raben / Noch fliegen immerdar, / So muß ich auch noch schlafen / Verzaubert hundert Jahr." Das heißt: Der Kaiser schläft bis heute, und sein Bart wächst weiter um einen Steintisch.

    Von Berka nehmen wir den Bus durch die Hopfenfelder bis nach Bad Frankenhausen. Von dort sind es neun Kilometer zum Denkmal. Wir sind müde, und es geht stetig bergauf. Aber nach kurzer Zeit widerfährt uns wieder ein Zufall. Ein älterer Herr meint so etwas wie: "Suchen sie für heute einen Schlafplatz?" Wir nicken. "Ja, dann nehmen sie doch die Naturpark-Station oben im Wald, gleich hinter der Allee mit den Kastanien. Gehen Sie einfach links durch die Saloon-Türen." Wir steigen bergauf, der Tag neigt sich, es sind Mücken in der Luft, die Kastanienallee ist herrlich grün. Von links riecht es nach Grillkohle, wir hören Kinderstimmen und sehen Saloon-Türen.
    Kaiser Barbarossa muss am Kyffhäuser-Denkmal unten sitzen, zu Füßen von Kaiser Wilhelm I.
    Kaiser Barbarossa muss am Kyffhäuser-Denkmal unten sitzen. (Dirk Gebhardt)
    Dahinter liegen eine Wiese mit Kirschbäumen und Orchideen, eine Kräuterspirale und eine robuste Holzhütte. Gerade feiert Georg seinen Kindergeburtstag. Er ist sieben geworden, und wir singen für ihn. Georgs Eltern heißen Karsten und Melanie und sitzen am Grillplatz. Ein paar Freunde sind dabei, und wir bekommen warme Salami-Pizza und knuspriges Brot mit Schmalz.
    Gespräche und warme Pizza an der Naturpark Station im Kyffhäuser
    Gespräche und warme Pizza an der Naturpark Station im Kyffhäuser (Dirk Gebhardt)
    Karsten und Melanie gehört eine Design-Agentur auf der Nordseite des Kyffhäuser, drüben in Sachsen-Anhalt. Karsten, der Mann mit Bart und Brille, ist als Messebauer um die halbe Welt gereist und wollte zurück nach Hause . Heute machen er und seine Frau mit ihrem Team Werbeprojekte für die Natur im Kyffhäuser und die Region drumherum. Gerade arbeiten sie an einer Ausstellung über die "Hohe Schrecke", auch das ein Militärgelände, etwas weiter westlich, mit so viel Natur und liegengelassenen Baumstämmen, dass eine Menge Totholzkäfer ein gutes Leben führen können.
    Mit dem Visum ins Berliner Ensemble
    Die Gegend auf der Nordseite des Kyffhäuser heißt "Goldene Aue", angeblich, weil der Boden so fruchtbar ist und der Raps besonders schön leuchtet. Nicht, dass es der Nordseite nach der Wende besser ging als der Südseite. Günther ist Ende 50 und EU-Rentner, aber das EU steht nicht für Brüssel, sondern für Erwerbsunfähigkeit. Bei ihm ist es schwere Diabetes. Günther erzählt von früher, während wir Schmalzbrot essen. Was für Sondershausen die Kaligruben waren, das waren für die Region Sangerhausen auf der anderen Seite die Kupfergruben. Auch sie waren wichtige Arbeitgeber in der DDR, auch diese Betriebe wurden nach der Wende geschlossen.
    Lagerfeuer, abends. Die Familien und die Kinder brechen auf. Dirk, Michael aus Berlin und ich sitzen vor den Flammen. Wir trinken Bier und erzählen uns unser Leben. Michael, der West-Berliner, aufgewachsen in Friedenau. Mit Visum fuhr er hinüber ins Berliner Ensemble und sah Brecht, und die Luft roch nach Zweitakter-Gemisch . Deutschland lernte er nach der Wende kennen, vor allem Leipzig mag er sehr. Die Bach-Stadt war Pflicht für den gelernten Organisten.
    Im Morgenlicht hinauf zum Denkmal
    Es wird Nacht, die Zikaden klingen wie in Südfrankreich , die Schutzhütte ist warm und gemütlich. Wir sind gegen sechs Uhr früh auf den Beinen und wollen endlich hinauf zum Kyffhäuser-Denkmal. Der Buchenwald strahlt im Morgenlicht, die Erde ist rot, die Luft ist feucht, es regnet ein bisschen. Knapp zwei Stunden laufen wir und sind um 8.24 Uhr oben - in einer vollkommen anderen Welt.
    Dort stehen: Gasthäuser, Andenkenbuden im Halbkreis, Tische und Bänke. Alles ist im festen Griff der Siebziger Jahre erstarrt. Unter dem Vordach eines Cafés hängen dutzende Kaffeekannen zum Anschauen an Metallhaken, in der Außengastronomie stehen überall menschengroße Figuren.Ein verwitterter Koch mit breitem Lächeln, ein hölzerner Barbarossa, ein Elvis mit viel zu kleinem Kopf, ein Adler, eine Nymphe, eine Indianerin. Es gibt keinen Zusammenhang. Es gibt auch keinen Kaffee, denn wir sind viel zu früh. Ein lebendiger Herr mit Bauch sagt: "Um neun", aber auch um neun tut sich nichts. Der Kyffhäuser bleibt uns verschlossen. Wir vermuten Absicht und bekommen schlechte Laune.
    Die Außengastronomie oben am Kyffhäuser-Denkmal
    Die Außengastronomie oben am Kyffhäuser-Denkmal (Dirk Gebhardt)
    Hindenburg, horizontal
    Beim Warten auf einer Mauer entdecken wir Paul von Hindenburg. Er liegt am Haus neben uns in einer Grube, seine Füße ragen tief unter das Fundament. Der Reichspräsident, der Hitler zur Macht verhalf, kann nicht weg, denn sonst würde das Haus einstürzen. Das Denkmal ist aus grünem Porphyr, der Pächter hat es 2004 freigelegt, der rechtliche Status ist unklar. Auch das eine Kyffhäuser-Geschichte: Dieser Hindenburg wurde 1945 vom Sockel gestoßen und vergraben, wahrscheinlich von Sowjetsoldaten. Seine geographische Horizontallage war bekannt - aber die Stasi, die hier oben später eine Feriensiedlung baute, schwieg offenbar lieber und ließ ihn in der Erde. Sprengen ging auch nicht, der Stein ist zu hart.
    Liegt seit Jahren in einer Grube: Denkmal für Paul von Hindenburg
    Liegt seit Jahren in einer Grube: Denkmal für Paul von Hindenburg (Dirk Gebhardt)
    Etwas weiter, oben auf dem Hügel, steht das eigentliche Kyffhäuser-Denkmal. Jetzt sind wir endlich da, bei diesem altdeutschen Koloss aus rötlichem Sandstein. Auch das Denkmal ist noch geschlossen, aber es gibt ja Bilder im Internet. Und Fotografen, die sich nicht an Zäunen stören. Das Bauwerk ist von 1896. Es ist 81 Meter hoch und Kaiser Wilhelm I. gewidmet. Wilhelm selbst darf weit oben zu Pferde über das Land schauen. Barbarossa dagegen muss unten hocken, denn nicht er, sondern Wilhelm hat 1871 das Reich vereinigt - das ist die Botschaft, die kilometerweit zu sehen ist. Der Blick ins Tal ist toll.
    Lage des Kyffhäuser-Denkmals:
    Wir brauchen jetzt noch dringender ein Frühstück.. Die freundliche Frau vom Kiosk hat inzwischen aufgemacht und verkauft uns endlich Kaffee und Schokoriegel. Aber wir haben genug, wir haben uns einstimmig ein Taxi bestellt: Wir müssen pünktlich nach Berka zum Dorffest, und Berka ist gerade sehr weit weg. Das Taxi ist ein Kleinbus und riecht drinnen nach Latschenkiefer. Auf dem Dach trägt es ein Schild, darauf steht: "Krankentransport".
    Singende Festwiese
    Berka, 13 Uhr, Dorffest zum 50-jährigen Bestehen des Frauenchors. Erst ein Umzug, dann singt ein Chor nach dem anderen auf der Festwiese, während Sonne und Regen sich abwechseln. Wir werden nass und trocknen wieder, und wir erleben das letzte Saisonspiel der SG Berka auf dem Fußballplatz neben der Festwiese - dort, wo das gelbe Verkehrsschild steht mit der Aufschrift "Mazar-e-Sharif 4669km". Der Kreis schließt sich. Sondershausen mit Bundeswehr und Bergwerk, der Ausflug zum Kyffhäuser-Denkmal, und nun wieder Berka und das Fest.
    Dorffest in Berka - der Frauenchor wird 50 Jahre alt
    Dorffest in Berka - der Frauenchor wird 50 Jahre alt (Dirk Gebhardt)
    Es gibt Bier und Bratwurst und Alleinunterhalter. Die Menschen singen, trinken - später tanzen sie auch, aus den Boxen dröhnen die "Broilers", eine Düsseldorfer Band, die ihre Wurzeln in der Punk- und Skinhead-Szene hat und inzwischen auf Mainstream-Festivals wie "Rock am Ring" singt. Irgendwann legen wir uns zum Schlafen in die Gaststube des "Dorfkrugs". Kerstin Dabberdt hat uns fürs Aufstehen schonmal eine Thermoskanne Kaffee hingestellt, sorgsam eingehüllt in ein Handtuch.
    Klatschmohn und Kornblume
    Am nächsten Morgen verabschieden Dirk und ich unseren Wander-, Bus- und Taxigast Michi aus Berlin und ziehen weiter durch den Kyffhäuser, wieder geht es nach Frankenhausen, diesmal zu Fuß, über einen geteerten Radweg, der schnurgerade durch die Felder läuft. Eine Wanderautobahn. Der Kuckuck ruft, Weizen und Roggen wogen um ums herum, dazwischen blühen Klatschmohn und Kornblume. Es ist Frühsommer im Barbarossaland.
    Hohlweg am Kyffhäuser im Frühsommer 2015
    Hohlweg am Kyffhäuser im Frühsommer 2015 (Dirk Gebhardt)