Mittwoch, 24. April 2024

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Zwölf Stunden Arbeit und kein Lohn

Die Situation der Flüchtlinge auf der italienischen Insel Lampedusa ist seit zwei Wochen in ganz Europa bekannt. Ein Journalist hatte sich dort als Kurde getarnt eingeschlichen und über die menschenunwürdigen Zustände berichtet. Nach sieben Tagen wurde er freigelassen und aufgefordert, Italien zu verlassen. Kaum ein Flüchtling hält sich an die Anweisung. Die meisten gehen nach Norditalien, wo sie sich als Schwarzarbeiter auf dem Bau verdingen: für drei Euro Stundenlohn, ohne Pausen, ohne Sozialversicherung. Kirstin Hausen berichtet aus Mailand.

24.10.2005
    Der dort drüben mit dem Handy am Ohr, das ist ein Caporale, ruft Marco di Girolamo, Gewerkschaftssekretär in Mailand. Wir fahren langsam über die Piazzale Lotto. Marco und sein Kollege Franco haben darin bereits Übung. Sie sammeln Informationen über die Ausmaße der Schwarzarbeit in der Lombardei und sehen den untersetzten Mann Ende 40 nicht zum Ersten Mal, der an der Tür eines weißen Lieferwagens lehnt, Zigarette raucht und heftig in sein Handy nickt. Vor ihm: eine Gruppe Nordafrikaner, jung, kräftig, mit Rucksäcken auf den Schultern:

    "Sie kommen hierher, verhandeln den Lohn und auch den Betrag, den der Anwerber bekommt. Das ist die dunkle Seite des glitzernden Mailands."

    Franco kann seine Wut kaum verbergen. Grimmig beobachtet er, wie der Caporale die Nordafrikaner durchzählt. Fünf von ihnen dürfen am Ende einsteigen. Sie erwartet ein Zwölf-Stunden-Tag auf dem Bau. Ohne Pausen, ohne Schutzkleidung, ohne Versicherung:

    "Das ist kein italienischer Arbeiter, der seine Rechte kennt, eine Familie hat, einen Wohnsitz und so weiter. Das sind Arbeiter, die nichts von all dem haben und die gezwungen sind, jede Arbeit anzunehmen, um zu überleben. Warum nennen wir sie die Sklaven des 3. Jahrtausends? Weil sie in solchen Umständen leben. Ich weiß nicht, wie ich so eine Situation sonst nennen soll."

    Neu ist das Phänomen nicht. Neu ist lediglich, dass sich jemand dafür interessiert. Nachdem der weiße Lieferwagen verschwunden ist, gehen Marco und Franco auf die Männer zu, die nicht einsteigen durften. Drei laufen weg, zwei bleiben stehen. Gemal und Hamed sind Ägypter. Gemal deutet auf seine linke Rippe:

    "Eine Eisenstange ist von einem Gerüst gefallen und hat mich getroffen, dabei habe ich mir die Rippe gebrochen."
    Inzwischen ist die Rippe geheilt, aber Arbeit will ihm nun niemand mehr geben. Hamed hat sich heute geweigert, ohne Vorauszahlung in den Lieferwagen zu steigen. Monatelang ist er jeden Tag mitgefahren, hat auf verschiedenen Baustellen in Mailand, Brescia und Piacenza gearbeitet, ohne je einen Euro zu sehen:

    "Das Problem ist, dass er meinen Lohn einbehalten hat. Er hat mir gesagt, unterschreibe hier, dass Du Deinen Lohn bekommen hast und ich bezahle Dich später. Ich habe unterschrieben und er hat mir nichts bezahlt. Das geht jetzt seit acht Monaten so."

    Marco macht sich Notizen, vereinbart ein Treffen im Gewerkschaftshaus. Seine Hoffnung, dass Gemal und Hamed sich zu einer Anzeige entschließen, ist jedoch gering:

    "So eine Situation bei der Polizei bekannt machen, birgt ein ziemliches Risiko für den ausländischen Arbeiter. Die Rache des Corporale oder seiner Hintermänner, hier hat nämlich auch die organisierte Kriminalität ihre Hand im Spiel, endet nicht unbedingt bei Drohungen."

    Außerdem riskiert ein illegaler Einwanderer die sofortige Abschiebung, wenn er sich bei der Polizei meldet. Aber auch wer eine Aufenthaltsgenehmigung hat, traut sich oft nicht, gegen die sklavenähnlichen Arbeitsbedingungen aufzumucken. Wer sich beschwert, ist seinen Job los und die Chancen auf eine reguläre Arbeit stehen nicht gut. Ohne Qualifikationen, ohne ausreichende Italienischkenntnisse bleibt Afrikanern und Osteuropäern in Mailand nichts anderes übrig als um sechs Uhr morgens auf der Piazzale Lotto nach Arbeit zu fragen. Nicht nach dem Stundenlohn, nicht nach den Arbeitszeiten, einfach nur nach Arbeit. Zu welchen Bedingungen auch immer.