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Zynismus der Nachkriegsgesellschaft

Ursula Krechels mit dem Deutschen Buchpreis ausgezeichneter Roman ist ein Epitaph für einen stillen Helden der frühen Bundesrepublik. Der Titel "Landgericht" steht nicht nur für den Hauptschauplatz: Der aus der Emigration zurückgekehrte Richard Kornitzer selbst sitzt Gericht über sein einstiges Heimatland, und versucht, die Hoheit über sein Schicksal zurückzugewinnen, das ihm so brutal entrissen worden war.

Von Maike Albath | 14.10.2012
    An einem hellen Frühlingstag im März 1948 kehrt Richard Kornitzer aus der Emigration nach Deutschland zurück. Er trifft mit dem Zug in Lindau ein und bestaunt die Eleganz der Bahnhofshalle: Mit ihrem Tonnengewölbe und den Marmorverkleidungen an den Wänden wirkt sie merkwürdig unberührt von den Zeitläuften, auch die Reisenden sind überraschend gut gekleidet, sogar vergnügte Tagesausflügler mit Skiern fallen dem Emigranten ins Auge. Richard Kornitzer ist verwirrt und unsicher, er befürchtet, seine Ehefrau Claire nicht wieder zu erkennen. 15 Jahre ist es her, dass ihn die Nazis aus dem Richteramt verjagten. In letzter Minute hatte Kornitzer ein Visum für Kuba ergattert, allerdings nur für sich, nicht für seine Familie. Als Frau eines Juden war Claire, zuvor Geschäftsführerin einer großen Werbefirma, den Drangsalierungen der Gestapo ausgesetzt. Sie schlug sich mit Büroarbeiten durch und fand schließlich in Bettnang am Bodensee Zuflucht, wo sie in der Verwaltung einer Molkerei unterkam. Sämtliche Besitztümer des früher wohlsituierten Ehepaares waren eingezogen worden, jahrelang wussten sie nicht, ob der andere noch lebte. Auch zu der Tochter Selma und dem Sohn Georg, die vier- und siebenjährig mit einem Kindertransport der Quäker gerade noch rechtzeitig nach England gelangten, riss die Verbindung ab. Erst lange nach Kriegsende gelingt es Claire, ihren Mann ausfindig zu machen. Nun ist Kornitzer wieder da.

    "Am nächsten Tag machte er sich auf den Weg in die Stadt, die gewundene Straße entlang, vorbei an Wiesen und allein gelegenen Höfen, immer die Bergketten im Blick, die Fältelungen der Gebirgsmassen, Wolkenbänder, die darüber festgezurrt waren. Als er gut eine halbe Stunde gegangen war, kam Quellbewölkung auf, schneeweiße Wolkenhalden schoben sich ineinander, ein plastisches, haptisches Wolkengerangel mit ganz ungewissem Ausgang. Fuhrwerke überholten ihn und der Postbus, er wollte aber gehen, wollte so lange gehen, bis vor ihm an einer Straßenbiegung der See auftauchte. Das Grau der Luft, das sich wie ein zarter Schleier über die Wasserfläche breitete. Er ging sechs Kilometer immer bergab, es war ein Sacken in den Kniekehlen, etwas gänzlich Körperliches, das ihm gefiel, etwas Wanderburschenartiges. Und er war doch ein Mann Mitte vierzig, der schon sehr viel, zu viel erlebt hatte.
    Die innere Stadt, das hatte er gar nicht recht beachtet, war eine Insel, die durch die lange Brücke mit dem festen Land, dem Bauernland, verbunden war. Am Ufer Villen, Gartenanlagen, eine feine Gegend. Er sah auch gleich, dass viele der Villen von französischen Offizieren und ihren Dienststellen requiriert worden waren, Wachposten standen davor. Dann jenseits der Brücke die Holzschindelhäuser, die überkragenden oberen Geschosse, überkragende Dächer mit Schwalbenschwanzgauben. Die Stadt Lindau tat so, als wäre sie ein Ding außerhalb von Raum und Zeit. Dieser Gedanke gefiel ihm, aber er konnte ihn nicht weiterdenken und keine Schlüsse daraus ziehen. Etwas lullte ihn ein, und es (ja, was war es?) regte ihn gleichzeitig auf."


    Mit großer Ruhe nimmt Ursula Krechel die Szenerie in den Blick. Der Rhythmus der langen Satzperioden ist gemächlich, die Sprache präzise und von spröder Schönheit. Krechel arbeitet mit einer sehr diskreten auktorialen Erzählerstimme, die den Figuren nahe kommt, mitunter in sie hineinschlüpft und sie dann wieder von außen betrachtet. Es ist der Eindruck von Normalität, der Richard Kornitzer irritiert. Die poetisch verdichteten Landschaftsbilder vermitteln etwas von dem Charakter des Mannes, den die Schriftstellerin in den Mittelpunkt ihres faszinierenden und beklemmenden Nachkriegspanoramas stellt. "Landgericht" lautet der Titel, der nicht nur den Hauptschauplatz des Romans benennt, sondern auch als eine Schlagrichtung des Textes gedeutet werden kann: Kornitzer selbst sitzt Gericht über sein einstiges Heimatland, und versucht, die Hoheit über sein Schicksal zurückzugewinnen, das ihm so brutal entrissen worden war. Als Sohn einer großbürgerlichen Familie aus Breslau hatte er zu den assimilierten Juden der Weimarer Republik gehört und war sich erst durch die Nürnberger Gesetze seiner Herkunft bewusst geworden. Dass Kornitzer in den 50er-Jahren von dem tief in der Restauration steckenden Land vor allem Ablehnung und Unverständnis erfährt und an der Renitenz der Gesellschaft schließlich zerbricht, scheint sich schon in den melancholischen Beschreibungen der Wolken über Lindau anzukündigen. Elegant, leichthändig und in weit geschwungenen epischen Bögen spinnt Krechel die Geschichte des Richters fort, der zu einem Wiedergänger des Kleist'schen Michael Kohlhaas wird. Ihr dickleibiger Roman entwickelt eine große Spannkraft – so ungeheuerlich wirken die Geschehnisse in der frühen Bundesrepublik, so unfassbar ungerecht nehmen sich die Verhältnisse aus der historischen Distanz aus. Inspiriert von einer authentischen Figur, auf die die Schriftstellerin während der Recherche zu ihrem letzten Buch "Shanghai fern von wo" per Zufall stieß, zeichnet sie Kornitzer als einen klugen, leisen, kultivierten Herrn mit einer großen Liebe zum Recht. An dieser Liebe hält er fest, auch in den verkrusteten Strukturen der Nachkriegszeit. Allen Demokratisierungsbemühungen der Alliierten zum Trotz herrscht im Verwaltungsapparat Kontinuität - ehemalige SA-Angehörige und Parteimitglieder wissen sich mithilfe alter Seilschaften von allen Bezichtigungen reinzuwaschen und klettern behände die Karriereleiter empor. Emigranten, von denen, wie man bei Krechel erfährt, ohnehin nur erschütternde fünf Prozent zurückkehrten, wurden eher als Störfaktor empfunden. Schließlich waren sie der lebende Beweis für die Gräueltaten des NS-Regimes. Als man Kornitzer eine Stelle als Richter in Mainz anbietet, entscheidet er sich für einen Umzug in die vollkommen zerstörte Domstadt. Wohnraum ist praktisch nicht vorhanden, und wieder muss Kornitzer ohne seine Frau auskommen. Er findet ein Zimmer im Reihenhaus einer freundlichen Arbeiterfamilie, die im Unterschied zu seinen neuen Kollegen wenigstens nicht schweigend über alles hinweggeht.

    "Als alle gesättigt waren, platzte es aus der jungen Frau Dreis heraus: Herr Dr. Kornitzer, wo haben Sie den Krieg erlebt? Er war es schon gewohnt, dass seine Angaben irritierend waren. Er hatte auf der Rückseite des Krieges vegetiert, in Angst um seine Frau, in Angst um seine Kinder, und die eigene Angst um sich selbst hatte er beiseitegelassen. Und er sagte etwas, das vielleicht nur wie ein Bodensatz einer Verstörung wirkte. Dass er 1933 seine Beamtenstelle verloren hatte und seitdem versuchte, sich und die Seinen vor dem Künftigen, dem notwendigen Angriffskrieg, den Hitler plante, zu schützen. Von der Entrechtung, von der Austreibung sprach er nicht. Und er wollte auch nicht sagen: Frau Dreis, das ist ein deutscher Krieg gewesen, und mir hat man die deutsche Staatsbürgerschaft entzogen, irgendwann im Jahr 1941, ohne dass ich es wusste, und ich habe sie wieder beantragen müssen, als ich zurückgekehrt war. Ja, man hat sie mir großmütig wiedergegeben. Auf Antrag. Frau Dreis sah ihn sorgenvoll an, malmte mit den Kiefern und steckte einen kleinen Finger in den Mund. Also, Sie haben nicht im Bombenkeller gesessen, während das Haus durchgerüttelt wurde? Nein, er gab eine schlanke, fast nichtssagende Antwort. Und Sie waren nicht in einem Konzentrationslager? Kornitzer sagte, er habe ein Visum für Kuba kurz vor Kriegsbeginn ergattert und sich dort durchgeschlagen. Die Antwort zählte nicht für die um den Tisch Versammelten, also kein Krieg, also keine Kellerexistenz, keine pfeifenden Granaten. Dann sind Sie ein glücklicher Mensch."

    Selbstgerecht und voller Selbstmitleid schauen die Deutschen auf die Kriegsjahre zurück. Dass anderen womöglich viel schlimmeres Unrecht widerfuhr, kommt ihnen nicht in den Sinn. Kornitzer tut unbeirrbar seinen Dienst, das Gesetzbuch ist eine Entlastung, das bürgerliche Recht ein Schutzraum. Eindringlich vermittelt Ursula Krechel das Erstickende der frühen Bundesrepublik. Mit fiebriger Hektik verschreibt man sich dem Wiederaufbau – als eines Tages verloren geglaubte Kirchenglocken nach Mainz zurückkehren, gibt sich die Stadt einem Glückstaumel hin. Verantwortung für die Verheerungen zu übernehmen, ist schwieriger. Wer einen Wiedergutmachungsantrag stellt, muss gar Belege für das Erlittene einreichen. Ursula Krechel fügt Behördenkorrespondenz, Gesetzestexte oder Zeitungsartikel in ihren Roman ein und macht aus dem Zusammenspiel ein ästhetisches Verfahren. Die leblose Verwaltungssprache kontrastiert sie mit dichten Beschreibungen von zerstörten Innenstädten, wörtlicher Rede oder kleinen Porträtstudien ihres Personals. Wie Lichtpunkte blitzen bildhafte Vergleiche auf: Claire überfällt die Einsamkeit "wie ein feuchtes Tuch", Kornitzer stürzt sich in die Arbeit wie "in ein Messer", juristische Floskeln werden "wie Eier in einen Korb gelegt". Ein reizvolles, auch stilistisch vielschichtiges Gewebe entsteht. Ohne denunziatorischen Eifer macht die Schriftstellerin den unbewussten Zynismus der Nachkriegsgesellschaft deutlich. Gerade in der Bürokratisierung der Wiedergutmachung, dem verklausulierten Behördenjargon mit seinen formelhaften Sprachmustern zeigt sich, dass es vor allem darum ging, sich die Opfer vom Leibe zu halten. Man berief sich auf das früher geltende Recht, wollte Schuldeingeständnisse vermeiden und sich keinesfalls mit dem Erbe des Nationalsozialismus auseinandersetzen. Die Fratze des Antisemitismus wird nur mühsam camoufliert. Auf andere Weise bedrückend sind die privaten, nie wieder gut zu machenden Konsequenzen der Verfolgung. Kornitzers Kinder haben zwar in England überlebt, doch als die Familie endlich zusammentrifft, sind sie einander tief entfremdet. Sie können sich buchstäblich nicht verstehen, Selma spricht kaum Deutsch, Claire kein Englisch. Ein Besuch Selmas in Mainz wird zum Desaster, und auch der Versuch Claires, mit der Tochter gemeinsam in Bettnang zu leben, endet in einer Katastrophe. Am Ende kommen Georg, aus dem längst "George" geworden ist, und Selma nur noch für die Ferien nach Mainz, wo schließlich auch ein kleines Haus bezogen werden kann. Den Kern des Romans bildet das Exil in Kuba, dem fast hundert Seiten gewidmet sind. Schillernd und farbenprächtig lässt Krechel die Insel vor unseren Augen entstehen, und man vermeint, die Hitze förmlich zu spüren.

    "Tage, mit heißer Nadel aneinandergestichelt, sich gegenseitig überlappend. Ein Sandmückenschleier sirrt in der Luft über der dösenden Bucht. Klares, blaues Licht, Licht von ruhiger Eindringlichkeit, das einen bloß und bleich erscheinen ließ. Windmühlen, Zuckermühlen, Tabakfelder, Regimenter von Bananen. Zuckerrohrkämpfe, ausgefochten mit Lanzen, Macheten. Die ganze Ökonomie hing an einem seidenen Faden, und der war der Zuckerpreis. Gleißende Helligkeit der Barockkirchen und ihrer Nachahmer aus dem 19. Jahrhundert, die glanzvolle Ausstrahlung der Paläste mit ihren schattigen Höfen, Denkmäler, orchideenweiß, chinaweiß, porzellanweiß, vanillefarben. Kuba war ein Fließen und Ergießen, Bäche von Schweiß (man roch ihn, tat aber, als röche man ihn nicht), eine Lockerung. Beruhigung ganz ohne Grund."

    Wie schon in ihrem Roman "Shanghai fern von wo" weiß Ursula Krechel auch hier das fundamentale Fremdheitsgefühl ihrer Figuren einzufangen. Die jüdischen Emigranten wurden zum Spielball der weltpolitischen Verhältnisse und retteten sich bestenfalls in den Windschatten der historischen Umwälzungen. Niemand fühlte sich für sie zuständig. Kornitzer hat noch Glück, weil er bescheidene finanzielle Mittel besitzt, außerdem kann er ein bisschen Spanisch. Als er eines Tages auf Arbeitssuche bei einem Rechtsanwalt vorspricht, bricht der korrekte Jurist, der sich nie eine Blöße gibt, haltlos in sich zusammen und weint bitterlich. Hinterher ist ihm der Ausbruch peinlich.

    "Kornitzer verbrachte eine schlaflose Nacht in der lauten Pension, stand beim ersten Türenknallen am Morgen auf und bog in die Calle San Lázaro, da sah er schon das Meer. Er ging am Turm von San Lázaro vorbei, es drängte ihn, auf der Hafenpromenade spazieren zu gehen. Er starrte in die Brandung wie in einen blinden Spiegel. Ich muss mich entschuldigen für den peinlichen Vorfall, sagte er sich. Und lief zurück durch die Altstadt, drückte sich an den Hauswänden entlang, schlüpfte unter Kolonnaden, wenn er sie fand, um zumindest ein wenig Schatten zu ergattern. Als er die Treppe zu der Kanzlei emporstieg, kam ihm der Rechtsanwalt Santiesteban Cino mit wehenden Rockschößen entgegen. Ich muss ins Gericht, ich habe einen Termin versäumt, kommen Sie mit, wenn Sie wollen. Und dann begaben sich die beiden Männer in einem scharfen Galopp drei, vier Blocks weiter, überquerten eine Avenida, dann noch einmal eine große Kreuzung, prall, heiß, tauchten wieder in einen Kolonnadengang, und dann wies der Rechtsanwalt vage mit der Hand in die Ferne. Da: das Gericht. Und als sie eintraten in den vornehmen Bau mit den dorischen Säulen – Kornitzer nun seinem Empfinden nach ein, zwei Schritte hinter seinem neuen Bekannten -, drehte der sich plötzlich nach ihm um und sagte: Alles Unheil kommt daher, dass mein Kalender nicht ordentlich geführt wird."

    Kornitzer wird zum Büroleiter des Rechtsanwalts, er hat ein Auskommen, schließt Freundschaften. Fein gezeichnete Porträts der Emigranten wechseln mit Schilderungen karibischer Gepflogenheiten, sogar zu einer Liebesgeschichte kommt es noch. Nach Kriegsende verlassen beinahe alle Flüchtlinge die Insel. Viele gehen in die USA, aber für Kornitzer ist es selbstverständlich, nach Deutschland zurückzukehren. Anders als in ihrem Roman "Shanghai fern von wo", in dem sich die Handlung über eine ganze Protagonisten-Riege verteilte, konzentriert sich Krechel dieses Mal auf eine einzelne Familie. Nicht nur Richard rückt dem Leser in all seiner Aufrichtigkeit, seinem Scharfsinn und der mitunter kleinlichen Art sehr nahe. Genauso prägnant sind Krechels weibliche Hauptfiguren. Selma ist gerade keines jener elfenhaften, ätherischen Geschöpfe, wie sie in der Gegenwartsliteratur zuhauf vorkommen, sondern ein eher dickfälliges, stark pubertierendes Mädchen vom Land, das sich dumpf mit Käsekuchen vollstopft, voller Zorn auf die Eltern. Die kubanische Geliebte Kornitzers Charidad, eine Lehrerin für Geografie, entfaltet mit ihrem schmalen Körper, der Wissbegierde und ihrem einsamen Stolz einen ganz eigenen Zauber. Und mit der geschäftstüchtigen Expertin für Kinowerbung Claire hat Ursula Krechel eine jener starken Frauengestalten geschaffen, wie sie für das Berlin der 20er-Jahre typisch waren. Man fühlt sich an Vicky Baum oder Erika Mann erinnert, berufstätige, selbstbestimmte Frauen, die Auto fuhren und in der Mittagspause zum Boxen gingen. Claire hat einen avancierten ästhetischen Geschmack und ein sicheres Urteil, sie liebt zeitgenössische Gebäude und bezieht mit ihrem Mann eine moderne Wohnanlage von Erich Mendelsohn, dem Architekten des spektakulären runden Kinos, das heute die Berliner Schaubühne beherbergt. Claires Fähigkeiten liegen nach dem Krieg brach. So tief sich Ursula Krechel in ihren Helden Richard Kornitzer einfühlt, hier zeigt sie auch die emotionale Enge, die ihn mitunter beherrscht. Als seine Frau auf die Idee kommt, in Mainz ein Kino zu eröffnen, durchkreuzt er mit einem Satz ihre Pläne – für die Gattin einer öffentlichen Person sei so etwas nicht standesgemäß. Also engagiert sich Claire nur noch für die Belange ihres Mannes, an denen er sich, je älter er wird, immer mehr aufreibt.

    "Wenn sich im Jahr 1949 seine Hoffnungen auf weitere Beförderungen nicht erfüllt haben, so kann das etwaige Ausbleiben dieser Beförderungen nicht mehr auf nationalsozialistische Verfolgungs- oder Unterdrückungsmaßnahmen zurückgeführt werden. Eine Wiedergutmachung nach dem BWGÖD – dem Bundeswiedergutmachungsgesetz – scheidet deshalb insoweit aus. Der Antragsteller kann gegen den Wiedergutmachungsbescheid auf dem Verwaltungsrechtsweg beim Oberverwaltungsgericht Koblenz klagen, er hat eine Frist von drei Monaten nach der Zustellung des Briefes, so wird ihm beschieden.
    Kornitzer klagt über den Zeitpunkt, an dem ihm dieser "formal-ablehnende" Wiedergutmachungsbescheid zugestellt worden ist, nachdem er so lange liegen geblieben ist. Wie hat er sich kundig gemacht, dass er liegen geblieben ist? Gerade hatten sich die Durchblutungsstörungen an Händen und Füßen, die Kreislaufschwäche ein wenig gebessert, nun scheint ihm der Erfolg der Behandlung grundsätzlich vereitelt. Der Blutdruck ist zu hoch, er hat Schwindelanfälle. Ein Attest hat ihm die Vermeidung psychischer und geistiger Überbelastung dringend empfohlen. Auch auf das Treppensteigen soll er verzichten. Er schreibt dies an den Präsidenten des Landgerichts, gegebenenfalls zur gefälligen Weitergabe. Er lebt in dünner Luft. Er lebt mit angezogener Handbremse."


    Am Ende nimmt Kornitzer das Grundgesetz ernst, viel ernster als seine Richterkollegen, und provoziert damit einen kleinen Skandal. Von Einsamkeit und Krankheit gezeichnet, stirbt er 1970. Ursula Krechels großartiger Roman ist ein Epitaph für einen stillen Helden der frühen Bundesrepublik.

    Ursula Krechel: "Landgericht". Roman. Jung und Jung, Salzburg und Wien 2012, 495 Seiten, 29, 90 Euro

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    Deutscher Buchpreis 2012 für Ursula Krechel (Deutschlandradio Aktuell)