Autobahnkirchen

Göttlicher Beistand am Straßenrand

43:50 Minuten
Autobahnkirche A71 am Rastplatz "Thüringer Tor"
Die Autobahnkirche A71 ist seit 2015 ein Ort der Ruhe neben der lärmenden Autobahn © Franziska Bulgrin
Von Vivien Schütz · 01.04.2020
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Eine Autobahnkirche sollte nicht mehr als einen Kilometer von der Autobahn entfernt liegen, Platz für eine Busladung Besucher haben und mindestens von 8 bis 20 Uhr geöffnet sein. Aber wie nah kann man Gott auf einem Rastplatz zwischen Autobahn und überquellenden Mülleimern kommen?
Wer im Anliegenbuch der Autobahnkirche A71 am Rastplatz "Thüringer Tor" blättert, findet viele persönliche Einträge: "Lieber Gott, ich weiß, dass du auch mit der Zeit gehst. Du weißt auch, dass es, so lange es Menschen gibt, gleichgeschlechtliche Liebe gibt. Jetzt stehe ich vor einer Entscheidung, die sehr schwer für mich ist." Viele Texte handeln von geliebten Menschen, Krankheiten und vom Tod. Manche Besucher nutzen das Buch aber auch, um sich mit ihrem Namen und ihrer Reiseroute zu verewigen, Gebete niederzuschreiben oder sich für ihr bisheriges Leben zu bedanken. In der Autobahnkirche A71, die seit vier Jahren geöffnet ist, liegt mittlerweile das vierte Anliegenbuch aus, sagt Ralf Luther, der Vorsitzende des Vereins der Autobahnkirche.
Ralf Luther, Vorsitzender des Vereins Autobahnkirche e.V., blättert im 4. Anliegenbuch der Autobahnkirche A71
Ralf Luther, Vorsitzender des Vereins Autobahnkirche e.V., blättert im 4. Anliegenbuch der Autobahnkirche A71© Deutschlandradio / Vivien Schütz
Symbol der Wiedervereinigung
Die Autobahnkirche liegt an der Landesgrenze zwischen Thüringen und Bayern. Bis zur ehemaligen innerdeutschen Grenze sind es nur wenige Kilometer. Ursprünglich hatte der Verein geplant, zwei Kirchen zu bauen, eine in Thüringen, die andere in Franken, um an die friedliche Wiedervereinigung Deutschlands 1989 zu erinnern. Von den Kirchen sollten zwei Laserstrahlen ausgehen, die sich am Himmel treffen und ein Kreuz bilden.
Die Idee wurde allerdings aus Kostengründen verworfen. Stattdessen entstand nach zehn Jahren Bauzeit eine Kirche auf Thüringer Boden, die symbolisch für die Überwindung der damaligen Grenze stehen soll und als ein Ort der Ruhe und Besinnung gedacht ist. Jedes Jahr finden drei Gottesdienste statt: einer zum Frühlingsanfang, einer zum Tag der Autobahnkirchen im Juli und einer im Herbst zur Erinnerung an die Grenzöffnung 1989.
Der ökumenische Gottesdienst in der Autobahnkirche A71 wird von zwei Pfarrern gestaltet
Der ökumenische Gottesdienst in der Autobahnkirche A71 wird von zwei Pfarrern gestaltet© Deutschlandradio / Vivien Schütz
Kein Kreuz an der Wand
Der Verein der Autobahnkirche verzichtete bewusst auf auffällige christliche Symbole, da laut Ralf Luther alle Menschen willkommen sind, unabhängig von ihrer Religionszugehörigkeit. Zwei große Kreuze machen dennoch klar, dass es sich hier um eine christliche Kirche handelt: Das große Holzkreuz außerhalb der Kirche, das mit dem Symbol für die Autobahnschleife kombiniert wurde, und das eingefasste Kreuz im Altar.
Autobahnkirche innen
An den Wänden der Autobahnkirche hängt kein Kreuz© Franziska Bulgrin
Probleme mit Diebstahl
Die Autobahnkirche A71 ist immer geöffnet – rund um die Uhr, bereits vier Jahre lang. In dieser Zeit wurde der Opferstock der Kirche drei Mal aufgebrochen und die Kollekte darin gestohlen. "Der wird auseinandergerupft, aufgehebelt, rausgetragen, auf den Stein geschmissen, damit sie ihn auseinander kriegen. Der lag hier drüben im Gras, in den Steinen", sagt Gerhard Bracher, der sich zusammen mit seiner Ehefrau ehrenamtlich um die Kirche kümmert. Er und seine Frau kommen einmal in der Woche vorbei, schauen nach dem Rechten, sammeln die Spendengelder ein und tauschen Blumen aus.
Die Statistik
Eine Studie des Zentrums für kirchliche Sozialforschung an der Katholischen Fachhochschule Freiburg hat ergeben, dass die durchschnittliche Verweildauer in einer Autobahnkirche fünf bis zehn Minuten beträgt und vor allem Männer sie besuchen. Zwei Drittel der Besucher sind laut der Studie über 50 Jahre alt und verheiratet. Die meisten Besucher sind Katholiken.
44 Autobahnkirchen gibt es in Deutschland. Fast jede sieht anders aus. Die Autobahnkirche Siegerland an der A45 etwa ist ein leuchtend weißes Bauwerk mit zwei Spitzen. Die Kirche wurde 2013 fertiggestellt und hat seitdem Auszeichnungen für ihre außergewöhnliche Architektur gewonnen. Die St. Christophorus Kirche an der A5 auf der Höhe von Baden-Baden hat die Form einer Pyramide und ist 20 Meter hoch. Andere Autobahnkirchen sind sehr klein, wie zum Beispiel die Kirche in Schwabhausen in Thüringen. Sie ist fünf Meter hoch und hat die Form eines Oktogons, genauso wie alle anderen Autobahnkapellen, die von der Straßenverkehrsgenossenschaft SVG betrieben werden.
Die älteste Autobahnkirche Deutschlands steht in Adelsried an der A8 und wurde am 12. Oktober 1956 eingeweiht. Die Hälfte der Autobahnkirchen sind gleichzeitig Gemeindekirchen und oft weniger extravagant und experimentell in ihrer Form. Von den existierenden Kirchen sind 19 evangelisch, acht katholisch und 17 ökumenisch.
5.000 Euro Privatspende
Autobahnkirchen, die außerdem Gemeindekirchen sind, finanzieren sich aus den zur Verfügung gestellten Mitteln der Diözese oder Landeskirche. Von Vereinen betreute Autobahnkirchen wie die an der A71 finanzieren sich aus dem Kerzenverkauf und Spenden. Der Vorsitzende Ralf Luther erinnert sich an eine außergewöhnlich hohe Spende eines älteren Herrn. Der überwies dem Verein vor der Fertigstellung der Kirche 5.000 Euro mit der Bitte, anonym zu bleiben. Er wollte sich nach einem schweren Verkehrsunfall, den er nur mit Gottes Hilfe überlebt habe, bedanken.
Sakralbau aus Sicht eines Architekten
Im anschließenden Gespräch erzählt der Architekt Johannes Schilling, was die besonderen Herausforderungen bei der Konzeption eines Sakralbaus sind und dass Kirchen heutzutage auch rational konzipiert werden müssen, als Gebäude, die von der Gemeinde genutzt werden: "Mystik ohne Begründung ist Hokuspokus. Gerade diese Verbindung zwischen der Welt, die ich wirklich erfahren kann, und der Welt, die ich darüber hinaus fühle, hat zwar etwas mit Mystik zu tun, aber nicht so, dass es beliebig ist."
Außerdem plädiert er dafür, dass Kunst und Architektur noch enger zusammenarbeiten und dass sich Architekten auch bei der Konzeption von Nutzbauten kreativ einbringen: "Ich habe auch mal einen Aldi entworfen. Das ist ein ganz interessanter, poetischer Aldi geworden."
(Wiederholung vom 16.08.2019)
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