Aus den Feuilletons

Zeit der Populisten

04:22 Minuten
Ein Mann mit grauen Haaren und kurzem Bart.
Im Sat.1-Frühstücksfernsehen hatte Boris Palmer gesagt: „Ich sag‘ es Ihnen mal ganz brutal: Wir retten in Deutschland möglicherweise Menschen, die in einem halben Jahr sowieso tot wären.“ Das beschäftigt nicht nur Manfred Klimek in der „Welt“. © picture alliance / dpa / Sebastian Gollnow
Von Tobias Wenzel · 01.05.2020
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Nach der großen Einmütigkeit im Kampf gegen das Coronavirus melden sich immer mehr Politiker zu Wort, die einen Wechsel der bisherigen Strategie fordern. Dabei werden die Jungen gegen die Alten ausgespielt – Thema in sämtlichen Feuilletons.
"Würden wir die Feuerwehr abschaffen, nur weil es im vergangenen Jahr nicht gebrannt hat?", fragt der Wissenschaftsjournalist und studierte Physiker Ranga Yogeshwar in der FRANKFURTER ALLGEMEINEN ZEITUNG, um zu verdeutlichen, warum er folgende neue deutsche Entwicklung in der Coronakrise für Irrsinn hält: "Statt die Maßnahmen als Erfolg zu feiern und sich über den bislang glimpflichen Verlauf zu freuen, wächst die Kritik an den Experten." Yogeshwar spricht hier von "Phase zwei". Welche Phase drei der Wissenschaftsjournalist prophezeit, lesen Sie, liebe Hörer, bitte selbst in der FAZ nach.
Bleiben wir also bei Phase zwei: "In dieser Befreiungsphase wird wissenschaftliche Klarheit vernebelt. Die Kategorien des Für und Wider verschieben sich vom Rationalen ins Emotionale." In Phase eins seien Virologen noch wie Stars gefeiert worden. Nun, drei Wochen später, richte sich aber der Volkszorn auf sie. Der Virologe Christian Drosten habe sogar Morddrohungen erhalten. Nicht nur das sei gefährlich. Politiker würden nun, anstatt Orientierung zu bieten, nämlich wieder nach "Umfragewerten und Beliebtheitsskalen" schielen. Hier zeige sich, wer Populist sei und wer dagegen "true leadership" besitze.

Ende der Corona-Einmütigkeit

Ranga Yogeshwar spricht Wolfgang Kubicki indirekt die "true leadership" ab und Populismus zu. Der FDP-Politiker hat in einem Interview mit der dpa die Vermutung geäußert, die Zahlen des Robert-Koch-Instituts seien nicht wissenschaftlich fundiert, sondern politisch motiviert. Yogeshwar zitiert Kubicki so: "Es trägt nicht dazu bei, die täglichen Wasserstandsmeldungen des Instituts noch für seriös zu halten." Also kein "true leader", dieser Wolfgang Kubicki. Vielleicht ist es da auch besser, darf man schon mal als Leser denken, dass er "nur" Vize-Vorsitzender der FDP und Vize-Präsident des Bundestags ist.
Aber auch der Präsident des Bundestags, Wolfgang Schäuble, wird im Feuilleton vom Samstag scharf kritisiert. Schäuble hatte gesagt, die Behauptung, "alles andere habe vor dem Schutz von Leben zurückzutreten", sei "in dieser Absolutheit nicht richtig". Einen absoluten Wert im Grundgesetz stelle höchstens die Menschenwürde dar. Aber die schließe nicht aus, dass wir sterben müssten.
"Was will uns Schäuble damit sagen?", fragt Manfred Klimek in der WELT. "Dass wir alle sterben? Und dass das Sterben einzelner mit der Würde des Lebens anderer abgewogen werden muss? Echt?" Und mit Blick auf Boris Palmer, den Tübinger Oberbürgermeister: "Palmer hat gut erkannt, dass immer mehr im Volk sich nach jemandem sehnen, der das ausspricht, was viele denken: 'So sterbt doch endlich! Ihr, die ohnehin bald gestorben wärt. So sterbt doch endlich! Und lasst uns weitermachen.'" "Ist es absurd, das obszön zu finden?", fragt Klimek.
Und diejenigen, die Ranga Yogeshwars Artikel in der FAZ gelesen haben, fragen, ob, nein, vermuten, dass der Wissenschaftsjournalist Palmers neuesten Debattenbeitrag als kein Zeichen von "great leadership", sondern von Populismus deuten würde.

Meditieren im Kiefernwald

Ein Populist ist Paul Jandl wohl kaum, ein "great leader" vielleicht auch nicht, aber eines ist er ganz bestimmt: ein Mann des Waldes. Der Literaturkritiker schreibt in der NEUEN ZÜRCHER ZEITUNG über seinen Besuch eines Brandenburger Kiefernwaldes, in dem es knacke und zirpe: "Viel mehr brauche ich gar nicht, um in einen Zustand der Meditation zu kommen. Ins grüne Gestrüpp der Gedanken, in denen das Wort Krise nicht lauter ist als das Klopfen des Spechts."
Zum Schluss zitiert Jandl noch eine Leserin: Sie habe in einem einsamen Wald ihren früheren Mathematiklehrer getroffen. In Jandls Worten: "Zur Sicherheit hatte er einen Zollstock dabei. Würde man sich nähern, wüsste er genau, wann der Abstand von anderthalb Metern unterschritten ist. Kommen Tiere, macht er die eine oder andere Ausnahme."
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