Aus den Feuilletons

Das unkritische "Liken" in der Kunst

06:21 Minuten
Mann mit Sprechblasen zwischen Daumen hoch und Daumen runter
In der Kunstszene würde derzeit alles für toll befunden, weil man sich dann für seinen guten Geschmack feiern könne, meint die "NZZ". © imago
Von Arno Orzessek · 04.05.2019
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Eine "komplex institutionalisierte Fankultur" stellt die "NZZ" in der Kunstszene fest und bemängelt, dass schlechte Kunst nicht mehr beim Namen genannt werden darf, ohne dass man geächtet wird. Grund dafür: der allgegenwärtige Narzissmus.
Vermutlich können wir uns hier auf Folgendes einigen. Dass nämlich Robert Habeck, der strubbelhaarige Heilsbringer der Grünen, mit seinen Worten zur Zeit nicht allzu sparsam umgeht. Vor kurzem etwa sagte Habeck: "Um zu glauben, im eigentlichen Sinn, habe ich wohl zu viele Philosophen gelesen. Ich bin auch nicht in einer Kirche."
Die Tageszeitung DIE WELT fand Habecks Koketterie mit seinem enormen Lektüre-Pensum offenbar dünkelhaft ärgerlich. Jedenfalls fragte sie hämisch, wenn auch sprachlich arg ungelenk: "Wofür er wohl noch alles zu viele Philosophen gelesen hat?" Hier zwei von Jan Küvelers Ideen: "Um mir die Haare zu kämmen, im eigentlichen Sinn, habe ich wohl zu viele Philosophen gelesen. Ich brauche morgens auch nur fünf Minuten im Bad." "Um mich als Feminist zu bezeichnen, im eigentlichen Sinn, habe ich wohl zu viele Philosophen gelesen. Ich bin auch nicht Annalena Baerbock." Der WELT-Autor Jan Küveler, der Robert Habecks Duktus ins Lächerliche zog.
Nicht einmal zum Schmunzeln ermunterte in der SÜDDEUTSCHEN ZEITUNG die Überschrift: "Das Ende ist nah." Allein, der Titel war eine Mogelpackung. Tatsächlich beklagte Nicolas Freund, heutzutage sei "die Dystopie zum Mainstream geworden", und warnte vor den Konsequenzen modischer Schwarzmalerei.

Der Untergang als Mainstream

"Klimawandel, Insektensterben, autoritäre Politiker und neue, schwer einschätzbare Technologien wirken wie die bedrohlichen Boten einer kommenden Zeit, die nichts Gutes bereithalten kann. […] Aber nur die Vorboten einer Katastrophe zu sehen schränkt die Perspektive ein und lenkt das Denken in vorbestimmte Bahnen. Auch, weil der möglicherweise kommende Untergang so zunehmend als unvermeidlich erscheint und nicht mehr als eine Möglichkeit unter vielen. Eine solche Vorstellung von der Unvermeidbarkeit der Zukunft ist eigentlich Merkmal eines religiös geprägten Geschichtsbildes", tadelte Nicolas Freund in der SZ den apokalyptischen Ton in der Debatte.
In der Wochenzeitung DIE ZEIT monierte Jens Jessen unter der Überschrift "Links rechts", vernünftige Diskussionen seien kaum noch möglich: "Ein unerbittliches Lagerdenken hat die öffentliche Debatte erobert. Wer sich nicht selbst einordnet, wird eingeordnet. Identität ist zum Kampfbegriff geworden und vergiftet alle Argumente." Es war ein düsteres – nach unserem Dafürhalten allzu düsteres – Bild, dass Jessen von der hiesigen Öffentlichkeit zeichnete:

Lagerdenken in der öffentlichen Debatte

"Ein Für und Wider, das man abwägen könnte, wird heute nicht mehr akzeptiert. Gilt das freie Nachdenken am Ende als wehrkraftzersetzend? Es scheint, als befänden sich nicht nur die Parlamentsparteien, sondern auch die akademischen Milieus in einem steten Wahlkampfmodus. Das Streitklima an den Universitäten wird von Hass und Denunziationen bestimmt. Selbst die intellektuelle Klasse – die ursprünglich und eigentlich argumentierende Klasse – behandelt Argumente nur noch wie Meinungen und diese als unveränderliche, immer verdächtige Brandzeichen einer politischen Identität." Wütend über den Abschied vom rationalen Diskurs: der ZEIT-Autor Jens Jessen.
Weder Hass noch Denunziation, sondern im Gegenteil "die weitverbreitete Lobhudelei" - und zwar in der Kunstszene – nahm die NEUE ZÜRCHER ZEITUNG aufs Korn. "Die Kunstszene erscheint wie eine weitläufige, komplex institutionalisierte Fankultur, wie ein Cluster von kleineren oder grösseren Begeisterungsgemeinschaften für bestimmte Künstler, Kunstrichtungen und kuratorische Konzepte. Hier gibt es weit und breit nur noch ‚Gefällt mir‘-Buttons. Schlechte Kunst ist dagegen offenbar ein Phantom, ein Dämon, den man nicht beschwören darf. Wer ihn beim Namen nennt, verfällt der Ächtung durch die Zunft. Warum bloss?" fragte der NZZ-Autor Christian Saehrendt – und gab unter anderem diese Antwort:

Selbstverliebte Lobhudelei

"Vielleicht der wichtigste Grund für die überbordende Lobhudelei in der Kunstszene: der allgegenwärtige Narzissmus. Wer heute bestimmte Künstler oder Werke lobt, lobt nicht mehr – wie in früheren Epochen – Gott, die Schöpfung oder das Künstlergenie, sondern sich selbst, er lobt sich für seinen guten Geschmack, für seine Bildung, für die Zugehörigkeit zu einem angesehenen Milieu." Der NZZ-Artikel hieß übrigens "Es lebe der Verriss."
Wer Leonardo da Vinci lobt, dürfte kaum hoffen, damit auch sich selbst zu erhöhen. Es wäre allzu lächerlich. Anlässlich des 500sten Todestages porträtierte Hans-Joachim Müller in der WELT da Vinci als Landschaftsmaler. "Man will ja als Botaniker nicht stören. Aber die Blumenwiese, auf der […] [da Vincis] Verkündigungsengel soeben weich gelandet ist, scheint wirklich nach dem Bestimmbuch gemalt. Mit verfeinerten floristischen Kenntnissen lässt sich jede blühende Art taxieren. Und die Zypressen, Pinien und Araukarien im Park sehen aus wie die einsamen Baumparaden auf den Hügeln der Toskana. Dahinter freilich löst sich die Wirklichkeit rasch im Licht auf. Und wenn es auf das Wort nicht diese frommen Gebietsansprüche gäbe, könnte man sagen:
Hier beginnt das Jenseits, hier irgendwo muss die Grenze sein. Solche Grenzen mag Leonardo sehr, diese Übergänge von der gesehenen zur geahnten Landschaft, vom Prospekt zur Imagination, von der Anschauung zur Vision." Sensible Worte für da Vincis Genie von Hans-Joachim Müller in der WELT.

Was wir wirklich brauchen

Sensibel für die Abgründe der Gegenwart zeigt sich die Philosophin und Psychologin Ariadne von Schirach, Autorin des Buches "Die psychotische Gesellschaft", in der TAGESZEITUNG:
"Unsere westliche Kultur […] hat das Denken vor das Dasein gestellt und das Machbare vor das Brauchbare. Der Weg aus der Krise beginnt damit, wieder über das Brauchbare nachzudenken. Was Menschen beispielsweise am glücklichsten macht, sind tiefe soziale Beziehungen. Wir wissen das alles. Das ist so spannend an dieser Zeit: Wir wissen alles und machen alles falsch." Nun, das mag so sein oder nicht.
Für den Sonntag wünschen wir Ihnen so viel Energie, wie Peter Kümmel in der ZEIT einigen Schauspielern des Wiener Burgtheaters zuschrieb. Kümmel schien es, "als hätten sie hinter der Bühne ihre nass gelutschten Finger in eine Luststeckdose geschoben."
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