Anohni im Berliner Tempodrom

Der Pop-Star ist die Puppe

Die Sängerin Anohni auf Tour mit ihrem Album "Hopelessness" steht am 21.6.2016 beim Konzert in Porto, Portugal, verscheiert auf der Bühne.
Verschleiert im Rampenlicht: Die Sängerin Anohni auf "Hopelessness"-Tour. © picture alliance / dpa / Estela Silva
Von Tobi Müller · 28.06.2016
Ist das die Zukunft des Pop? Bei ihrem Berliner Konzert vermeidet Anohni jegliche Liveklischees: Die Sängerin steht zwar im Scheinwerferlicht, bleibt aber immer unter einem Schleier verborgen. Ein Dutzend Frauen leihen ihr in Videoprojektionen ein Gesicht.
Die Sängerin Anohni, früher Antony Hegarty von Antony & The Johnsons, hat mit ihrem Polit-Album "Hopelessness" die Grenzen zeitgenössischer Pop-Musik getestet. Im Mai veröffentlichte sie elf Lieder, deren Deutlichkeit den Unterhaltungsbetrieb irritieren. Das hat man schon lange nicht mehr gehört: Songs über den Drohnenkrieg – aus der Perspektive eines afghanischen Mädchens, das um seine Auslöschung bittet – eine Anklage gegen Präsident Obama, der eine Million Tote auf dem Gewissen habe und die Flüchtlingskrise, ein Lied über den Klimawandel, auf dass die Erde kochen möge, und ein tanzbarer Track über die Todesstrafe.

Mit Wut und Vibrato in der Stimme

Darf man das, die Mittel der sexuellen Identitätspolitik auf die Weltlage anwenden? So lange der transsexuelle Junge Antony über die Geschlechter sang und über die Natur, was alles okay. Wenn die transsexuelle Anohni das Ende des Männerzeitalters wie eine Priesterin verkündet und den Schmerz in ihrer vibrato-reichen Stimme in Wut kippen lässt, werden die Einwände lauter.
So oder so: Zu diesem Album muss man sich verhalten. Mit einem verwaschenen "schon geil, obwohl ..." kommt man hier nicht weit.
Smart an dem Album ist zudem, wie Anohni ihren gestrichenen Kammerpop zerstört hat. "Hopelessness" ist produziert von Daniel Lopatin, bekannt als Oneohtrix Point Never, und Hudson Mohawke: Zwei elektronische Supernerds, die schon mal in Think Tanks von Superstars sitzen. Das ist kalte, schroffe Musik, die knirscht und kratzt, und dann doch wieder Harmonien aus Kamelhaar ausbreitet. Handgemacht, naturnah oder klassizistisch virtuos ist nichts mehr. Außer die geradezu italienische Stimme von Anohni, die im tiefen und hohen Vibrato losflattert wie ein Vögelchen von einigem Gewicht.

Ein großartiger Abend jenseits des Pop

"Hopelessness" ist ein konzeptioneller Move, eine Bewegung, die in der Veränderung des Personalpronomens von "er" zu "sie" nur ihren Anfang nimmt. Auf der Bühne geht Anohni ein paar Schritte weiter. Und zwar so weit, dass der großartige Abend mit dem Format eines Pop-Konzerts nicht mehr viel zu tun hat. Das ist eher Bildende Kunst und von einer Konsequenz, die ich auf einer Popbühne noch nie gesehen habe.
Es beginnt mit einer Rite de Passage, einer Einladung zu einem noch unbekannten Ritual. Mindestens eine Viertelstunde lang sehen wir nur die Model-Schauspielerin Naomi Campbell in Zeitlupe tanzen. Schwarz-Weiß, im Betonbunker, mit einer Krone wie die Freiheitsstatue. Ähnlich tritt sie auch im Video zu "Drone Bomb Me" auf. Aber hier hören wir nur elektronisches Meeresrauschen, zwei Akkorde sind im Geräusch gerade noch zu erkennen. Anschwellen, Abschwellen. Ins Bild kommen. Zum Krach werden.
Das provoziert bereits einige im nicht ganz vollen Berliner Tempodrom. Ein Popkonzert kennt solche Momente eigentlich nicht. Es sind Übungen in Gleichzeitigkeit: Konzentration und Rübergleiten in einen andern Zustand. Dann tritt sie auf. Anohni in einem weißen Gewand mit langen weißen Handschuhen, das Gesicht hinter einem schwarzen Schleier. Könnte ein Schutzanzug in radioaktivem Gebiet sein. Oder ein Imkergewand, auf der Suche nach den verschwundenen Bienen. Oder etwas Religiöses. Das bleibt offen, weil Anohni den Schleier tatsächlich nie lüftet. Wir sehen einen Popstar im Scheinwerferlicht, aber niemand sieht sie.

Ein Dutzend Frauen erscheint in Videos

Aller Ausdruck wird in das Video ausgelagert. Vielleicht ein Dutzend verschiedener Frauen erscheinen in Nahaufnahmen, bis knapp zur Schulter. Sie sind zwischen schätzungsweise 25 und 80 Jahre alt, ein paar wurden vermutlich nicht als Frauen geboren. Alles sind wunderschön ausgeleuchtet und allermeistens bewegen sie die Lippen synchron zu Anohnis Gesang.
Diese Frauen schauen immer direkt in die Kamera: die Wut, der Schmerz, manchmal sogar die Träne: Das alles ist nur als Bild zu haben. Als Idee. Das Fleisch auf der Bühne leiht nur diese Stimme, die den europäischen Gesang so grandios parodiert und ihn mit der Lebenserfahrung des Soul informiert.
Anohni träumt den alten Traum der Avantgarde auch in größeren Hallen weiter. Es ist der Traum, die Ebenen der Kunst aufzutrennen, ihre Effekthaftigkeit vorzuführen und zu einer Offenheit zu gelangen.
Es ist ein Traum aus dem Fernen Osten, der die Europäer seit über hundert Jahren inspiriert. Zum Beispiel aus Japan, einer Kultur, der Anohni schon lange huldigt in ihrer Arbeit. Der Abend hat etwas vom Bunraku Theater, dem japanischen Puppentheater, wie es Roland Barthes beschreibt.
Extreme Expressivität bei den Stimmen und in der Musik, Stilisierung bei den Puppen, was eine Emotionalität erlaubt, die nicht verzaubern will. Bei Anohni: Der Pop-Star ist die Puppe, und die Expressivität ist aufgeteilt auf die Stimme und auf die Bilder, nie auf den Körper oder auf das Gesicht.

Jegliches Liveklischee vermieden

Auf den Seiten stehen die zwei Elektroniker und spielen mehr oder weniger das Album runter. Links war es Daniel Lopatin aus New York, der schon im Studio dabei war. Der Herr rechts hatte Ähnlichkeiten mit Hudson Mohawke, sicher bin ich mir aber nicht.
Auch dieses spröde Setup vermeidet jegliches Liveklischee des Pop, es kehrt es noch nicht mal um wie die angestrengte Retro-Moderne von Kraftwerk. Obwohl ein Kunstraum wie der Hamburger Bahnhof oder die Neue Nationalgalerie sicher besser gewesen wäre für Anohni. Nicht weil es da besser aussieht, sondern weil diese Kunsträume die Erwartungshaltungen des Publikums anders einstellen. Das war kein Pop-Konzert, vielleicht aber die Zukunft.
Und: Gerne wird Anohni als Weltenretterin verspottet und in die Nähe des Chefpredigers Bono von U2 gestellt. Großes Missverständnis.
Bono sagt sinngemäß: Hey, Leute, ich regle das für euch mit meinen NGOs und mit meinem selbstlosen Engagement. Anohni sagt in etwa: Hey, Leute, wir sind Teil des Problems, und wir retten gar nichts im Moment, aber wir können vielleicht beginnen, den Schmerz und die Wut anzuerkennen. Bono spendet Trostpflaster, Anohni zeigt die Wunde.
Porträtaufnahme der Sängerin Anohni
Anohni gab im Berliner Tempodrom das erste Konzert ihrer Tour in Deutschland.© Beggars Group
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