Corona-Pandemie

Macht das Virus uns zu Menschenfeinden?

04:30 Minuten
Eine Illustration zeigt zwei Männer, die durch eine rote Linie getrennt sind.
Halte dich fern: Unter anderem Schopenhauer und Nietzsche untersuchten menschenscheue Gedanken. © imago images / Ikon Images / Gary Waters
Überlegungen von Nicola Schubert · 18.11.2020
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Menschenfeindlichkeit - so kann man Misanthropie übersetzen: Sie beschäftigt Philosophie und Literatur seit der Antike. Ob Corona die Kulturgeschichte der Misanthropie um ein großes Kapitel ergänzt, fragt sich die Schauspielerin Nicola Schubert.
"Eine Gesellschaft Stachelschweine drängte sich, an einem kalten Wintertage, recht nahe zusammen, um durch die gegenseitige Wärme, sich vor dem Erfrieren zu schützen. Jedoch bald empfanden sie die gegenseitigen Stacheln; welches sie dann wieder voneinander entfernte. Wann nun das Bedürfnis der Erwärmung sie wieder näher zusammenbrachte, wiederholte sich jenes zweite Übel …, bis sie eine mäßige Entfernung von einander herausgefunden hatten, in der sie es am besten aushalten konnten."
Das ist der Anfang der Parabel "Die Stachelschweine" des Philosophen Arthur Schopenhauer. Die Stachelschweine stehen natürlich für die Menschen, die sich bei dem Thema Nähe und Distanz in permanenter Widersprüchlichkeit befinden und nach einem mittleren, aushaltbaren Abstand suchen, wie Schopenhauer meint. Abstand – ein viel gebrauchtes Wort gerade.

Halt dich fern, wenn du kannst

Weiter heißt es in der Parabel: "So treibt das Bedürfnis der Gesellschaft, aus der Leere und Monotonie des eigenen entsprungen, die Menschen zueinander; aber ihre vielen widerwärtigen Eigenschaften … stoßen sie wieder voneinander ab."
"Widerwärtige Eigenschaften" - Schopenhauer wird nachgesagt, Misanthrop gewesen zu sein, einfach übersetzt: Menschenfeind. Er schließt seine Parabel dann auch mit dem folgenden Satz: "Wer jedoch viel eigene, innere Wärme hat, bleibt lieber aus der Gesellschaft weg, um keine Beschwerde zu geben, noch zu empfangen."
Der Rat also: Halt dich fern, wenn du kannst. Im Kontext der Pandemie hallen diese Worte noch mal besonders nach. Auch Schopenhauer erlebte übrigens eine Seuche: 1831 brach in Berlin die Cholera aus, er floh nach Frankfurt.
Es gibt für Menschenscheu verschiedene Gründe und auch ihre Bewertung fällt unterschiedlich aus: In der Aufklärung zum Beispiel war der Misanthrop zunächst verpönt. Was sich allerdings wandelte.

Der Mensch ist unzureichend

"Im Laufe der Zeit bricht er aus dieser Rolle aus, weil seiner Erkenntnis, dass die Gesellschaft, beziehungsweise dass der Mensch selbst unzureichend ist, mehr und mehr recht gegeben wird", schreibt die Literaturwissenschaftlerin Friederike Wursthorn.
Die aktuelle Menschenscheu hat nichts mit Enttäuschung oder Kritik zu tun – zwei klassische Motive in der Geschichte der Misanthropie. Sie ist verordnet. Diese Distanz zu anderen wird nicht aus Menschenfeindlichkeit praktiziert, sondern erst mal aus Menschenfreundlichkeit. Durch die Entferntheit schützen wir uns gegenseitig.
Doch sie befördert auch die Skepsis, mit der wir einander begegnen: Was Schopenhauer "widerwärtige Eigenschaften" nennt, kann auch Krankheit sein. Was wir füreinander - heroisch gesprochen - im Namen der Gesundheit tun, das wirkt auch als ein Gegeneinander.
Der "Feind" ist dabei nicht der Mensch, wohl aber ein Virus, das er in sich tragen könnte und das nicht mehr trennbar von seinem "Behälter" ist: Wirt und Virus sind eins. Somit wird jedes andere menschliche Wesen zur potenziellen Gefahr, von der sich fernzuhalten ist. Auch, um selbst nicht zur Gefahr für andere zu werden.

Wie lange wird die Menschenscheu nachhallen?

Ein Kreislauf der gegenseitigen Verdächtigung, die meist ohne Böswilligkeit ist. Doch unsere Interaktion mit anderen ist so stark verändert, dass es schwer vorstellbar ist, dass unser Verhalten davon nicht länger anhaltend geprägt wird. Wie lange wird es dauern, sich diese gewisse Menschenscheu wieder abzugewöhnen?
Die persönliche Grenze zwischen Vernunft und sozialem Bedürfnis müssen wir auch deshalb seit Monaten immer wieder ausloten, damit wir uns die Interaktion, eben auch explizit die physische, nicht völlig abgewöhnen und misanthropisch auf eine Welt schauen, die nur noch aus Gefahren besteht.

Nicola Schubert ist Schauspielerin und freie Autorin. Sie begann bei den "Ruhr Nachrichten" und Radio 91,2 in Dortmund und mit einem Theater- und Medienwissenschaftsstudium. Zurzeit ist sie, nach Schauspieldiplom in Frankfurt am Main und Erstengagement in Ostwestfalen, am Theater Ulm engagiert.

© Birgit Hupfeld
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