Appelle, Petitionen, offene Briefe

Wider den Bekenntniszwang

04:22 Minuten
Eine rothaarige Frau hält einen schwarzen Buchkalender hoch, auf dem Aufkleber mit der Aufschrift "Fight like a Grrrl!" , "Refugees welcome" und "System change not climate change" angebracht sind.
Haltungen auf simple Formeln gebracht: Die Schriftstellerin Kerstin Hensel wünscht sich mehr Bereitschaft zu abwägender Reflexion und weniger Schwarzweiß-Denken. © imago / ZUMA Wire / Sachelle Babba
Ein Standpunkt von Kerstin Hensel · 14.09.2020
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Im Briefkasten von Intellektuellen landen regelmäßig Aufrufe, sich zu solidarisieren oder zu einer Haltung zu bekennen. Kerstin Hensel lehnt diesen Trend zum Ad-hoc-Flaggezeigen ab, wohne ihm doch etwas Eiferndes inne - gepaart mit geistiger Faulheit.
Vor 30 Jahren wurde mir anlässlich meines eben erschienenen Romans "Auditorium panopticum" von einem zeitgeisterweckten Kritiker vorgeworfen: Hätte ich mich aktiv am Widerstand gegen das DDR-Regime beteiligt, hätte ich den Roman nicht schreiben brauchen. Im Falle einer klaren öffentlichen Ansage, nämlich dass die DDR nichts als ein totalitärer Unrechtstaat gewesen sei, müsse man nicht auf 300 Seiten mein angestrengtes, das heißt: aus- und um die Ecke gedachtes Zeug lesen.
Ohnehin hätte Volkes Zorn durch Volkes Mund verkündet: Komplizierte Kunst kann weg, weil sie nicht das Leben ist. Ergo: diese Künstler lügen. Überhaupt: was braucht der konsumierende Fleißbürger intellektuelle Klugscheißer, grüblerische Miesmacher und chaotische Weltversteher? Farbe bekennen! lautet das Schlagwort. Es lebe die eine, einfache Wahrheit. Das ist schwarz. Das ist weiß. Das ist böse. Das ist gut. Punkt. Schluss. Schnauze. Wer dazwischen redet, dem gehört auf dieselbe gehauen.

Meinungsformeln sind unterkomplex

Es ist heute kaum anders. Bemühungen zu erklären, dass ein Zeitalter, eine Gesellschaft, eine Biografie, ein Kunstwerk oder Quergedachtes niemals auf eine Meinungsformel zu bringen sind, scheitern oft. Viele wollen gar nicht offen, sachlich, kritisch, tolerant diskutieren, einander zuhören, sich bilden, dialektisch denken, neu erkennen, abwägen, abwarten, zweifeln, fragen.
Womöglich ist ein Grund für diese geistige Faulheit die immerdar währende Sehnsucht nach schnellen, einfachen Lösungen für schwer durchschaubare Probleme. Mit Parolen, Floskeln und Kampfbegriffen ist man gruppenkompatibel und scheint abgesichert. Oder man hofft, mit narzisstischer Verve in den World-Web-Medien sein verkümmertes Ego sichtbar machen zu können. Davon ist keine Gesellschaftsschicht ausgenommen.
Über heutige Debattenkultur wird viel diskutiert, weil sie polarisiert. Rechte und Linke, Pöbelei und Political Correctness, Enthemmung und Verklemmung, Mordlust und Tugendhaftigkeit, Shit- und Candystorm. Je stärker die Polarisierung, desto größer wird der Druck auf Menschen, die nicht bereit sind, sofort einem hochgeflaggten Bekenntnis zu folgen, sei es noch so hehr und moralisch integer. Dass sie behaupten, man sollte die Dinge ausführlich betrachten, weil sie ambivalent sind und keine simple Antwort bereithalten, macht sie verdächtig. Entziehen sie sich dem flotten Bekenntnis für oder gegen etwas, werden sie feige oder opportunistisch gescholten. Umgekehrt: im Moment, wo jemand "Farbe bekennt", ist er Teil der Polarisierung geworden.

Jedem Bekenntnis wohnt etwas Eiferndes inne

Für mein Gefühl haben bloße Bekenntnisse etwas Eiferndes, Religiöses, Militantes. Verwachsen Meinungen zu Dogmen, beflügeln sie nicht, sondern lähmen. Die Welt ist nun mal komplex. Die Offenbarung einer Position, die lediglich einen Augenblick und auch den nur grob erfassen kann, belässt mich unter den eigenen geistigen und gesellschaftlichen Handlungsansprüchen. Auch oder gerade weil ich zu schnellen Positionierungen oft genötigt werde.
Natürlich gibt es Fragen, da geht die Antwort flugs von den Lippen. Gerade da ist Vorsicht geboten. Ich bin nicht meinungs- oder haltungslos, dennoch: Ich will meine Ansichten, bevor sie die Öffentlichkeit erfährt, langsam reifen lassen. Für das Schreiben von Literatur ist das unerlässlich. Doch schon das Verfassen eines Politischen Feuilletons, das naturgemäß nicht warten kann, ist für mich eine Herausforderung. Ich bekenne mich nicht, doch ich stehe dazu.

Kerstin Hensel, Jahrgang 1961, ist Professorin für Poetik an der Hochschule für Schauspielkunst "Ernst Busch" in Berlin. Als Autorin hat sie zahlreiche Gedichte, Romane und Essays geschrieben. Im März 2020 erschien ihre jüngste Novelle "Regenbeins Farben".

Kerstin Hensel
© privat
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