Rekonstruktion von zerstörten Bauten

Selektiver Trost fürs Kollektiv

07:44 Minuten
Eine goldene Waage hängt an einem Haus in der Frankfurter Altstadt
Nicht alt, sondern ziemlich neu: Das Haus "Goldene Waage" in der rekonstruierten Frankfurter Altstadt, die 2018 eröffnet wurde. © picture alliance / dpa / Boris Roessler
Valentin Groebner im Gespräch mit Julius Stucke · 01.03.2021
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Wenn ein bedeutendes Bauwerk zerstört wird, ertönt oft der Ruf nach Wiederaufbau. Rekonstruktion sei immer eine Auswahl, sagt der Historiker Valentin Groebner: "Was will man wiederhaben und wo ist man froh, dass es für immer verschwunden ist?"
Das gesprengte Stadtschloss in Berlin, die durch ein Feuer stark beschädigte Kathedrale Notre-Dame in Paris, die von Taliban zerstörten Buddha-Statuen von Bamiyan in Afghanistan – haben wir ein Bedürfnis, das Alte einfach wieder aufzubauen? Warum tun wir das, was suchen wir damit?

Der Kölner Dom ist wenig mittelalterlich

"Es wird nicht alles wiederhergestellt, sondern das ausgewählte Alte – das, was unseren eigenen Bildern und Wünschen am meisten fehlt", sagt der in Luzern lehrende Historiker Valentin Groebner, der ein Buch mit dem Titel "Retroland" geschrieben hat. "Die meisten Kathedralen – in der Form, wie wir sie kennen – in Deutschland und Frankreich sind Restaurationen, Rekonstruktionen, das verschwimmt miteinander." Groebner weist darauf hin, dass der erst 1880 vollendete Kölner Dom nicht viele mittelalterliche Elemente hat und dass die 1914 von Deutschen in Brand geschossene Kathedrale von Reims komplett wiederaufgebaut worden ist, "teilweise in Stahlbeton".
All diese Gebäude aus der Vergangenheit wären gar nicht mehr da, wenn sie nicht dauernd geflickt und repariert würden, meint Valentin Groebner. Was damit zurückgeholt und wiederhergestellt werde, sei nicht die Vergangenheit, sondern "die Geschichte, das Erzählen, die Performance von früher". Die Bedeutung von Gebäuden hänge sehr stark vom Kontext ab: "Manche Dinge werden zum Trost wieder aufgebaut. Die Zerstörung von einem Objekt wird als so schrecklich empfunden, dass es wieder aufgebaut wird."Das sei nach der Französischen Revolution und nach den Weltkriegen überall in Europa geschehen. Nach ihren Zerstörungen von Objekten anderer Kulturen – zum Beispiel in Nordafrika oder Indien – waren die Europäer hingegen "sehr viel zurückhaltender" beim Wiederaufbau, kritisiert Groebner.

In zerstörten Städten war Platz für die Autos

Was jeweils aufgebaut wird, "ist das Produkt eines meistens politischen kollektiven Wunsches" – es werde dann sofort "besonders echt" und als Touristenattraktion besonders authentisch. Rekonstruktion sei aber immer Auswahl: "Was will man wiederhaben und wo ist man ganz froh, dass es für immer verschwunden ist?"
Die meisten deutschen Innenstädte seien Produkte von Wiederaufbau nach dem Zweiten Weltkrieg. Doch ironischer- oder konsequenterweise habe man, analysiert Valentin Groebner, die Ende der 40er-Jahre entstandenen vier- und sechsspurigen Straßen in den vorher dicht bebauten mittelalterlichen Innenstädten nicht zurückgebaut – "man wollte den Autoverkehr".
(cre)
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