Referendum in der Türkei

Er hätte "die Macht, per Dekret zu regieren"

Eine Frau kommt in Istanbul aus einer Wahlkabine.
Rege Wahlbeteiligung bei der Abstimmung zur Verfassungsänderung in der Türkei © AFP / Bulent Kilic
Von Sabine Adler · 16.04.2017
Mehr als 55 Millionen Türken können heute über den Umbau ihrer parlamentarischen Demokratie zu einem Präsidialsystem entscheiden. Kritiker sehen in dem Vorstoß einen Versuch, die Türkei in ein Ein-Mann-System zu verwandeln.
Dieser Mann hat abgestimmt, mit Nein, wie es vermutlich eine Mehrheit in großen Städten wie Ankara tun wird, aber vielleicht nicht im ganzen Land. Er gönnt sich einen Kaffee.
"Wir haben bereits die Ein-Personen-Herrschaft, wie ich es immer bezeichne. Wenn sich Montagmorgen herausstellt, dass die Nein-Stimmen gesiegt haben, wird sich nichts ändern. Aber es würde zeigen, dass selbst er verlieren kann. Wenn er seine Rolle fortführen will, muss er zeigen, dass er unverletzlich ist."
Bis ganz zum Schluss zog der Präsident die nationalistische Karte. Auf fünf Wahlkampfveranstaltungen in Istanbul, wo allein schon 20 Prozent der Wähler leben, bezeichnete Recep Tayyip Erdogan das Referendum als entscheidendsten Tag in der türkischen Geschichte, denn es würde die größte Reform der Geschichte verwirklichen.

Erdogan: Kampf für Verfassungsänderung sei einer gegen den Terrorismus

Einzig Länder wie Deutschland, die Niederlande, Österreich, Belgien, Schweden und die Schweiz würden die Türkei daran hindern wollen. Erdogan und türkische Mitglieder der Regierung hatten in Europa Wahlkampf machen wollen, was laut türkischem Gesetz verboten ist und in einigen Städten nicht erlaubt worden war, nicht zuletzt wegen der harschen Rhetorik gegen die Gastländer. Erdogan zum Ende des Wahlkampfes:
"Die Attacken auf unser Land in den vergangenen zwei Monaten zeigen, wie wichtig ein präsidiales System für die Türkei ist. Ihr habt gesehen, was die europäischen Länder getan haben, was die Europäischen Parlamente getan haben, für ein Nein. Sie werden die Antwort meiner Nation bekommen. Niemand kann unserem Willen Fesseln anlegen."
Seitdem Erdogan 2014 in einer Direktwahl zum Präsidenten gewählt wurde, beansprucht er mehr Macht für sich. Nach dem versuchten Putsch am 15. Juli 2016 steuerte er direkt darauf zu, die rechtsnationalistische Partei MHP unterstützte ihn, was nun ausreichen könnte, um den Wechsel herbeizuführen.
Der Kampf für die Verfassung sei einer gegen den Terrorismus, wurde Erdogan nicht müde zu wiederholen, was allen Kritikern unlautere Absichten unterstellte.

Vergrößerung des Parlaments sei eine "Arbeitsbeschaffungsmaßnahme"

Hikmet Cetin, ehemaliger Außenminister und Parlamentssprecher von der sozialdemokratisch säkular ausgerichteten CHP stammt aus Diyarbakir im Südosten der Türkei. Dort werden die überwiegend kurdischen Wähler zu 65 bis 70 Prozent mit Nein stimmen, vermutet er.
Unter den konservativen religiösen Kurden hatten zwar bei den vergangenen Wahlen viele für die AKP von Präsident Erdogan votiert, auch wegen des einst von Erdogan angestoßenen Aussöhnungsprozesses mit der kurdischen Terrororganisation PKK. Doch seit dem Abbruch der Gespräche 2015 ist Versöhnung in weite Ferne gerückt. Ex-Außenminister Hikmet Çetin von der CHP hegt eine leise Hoffnung, dass die Aussöhnung mit den Kurden noch kommt.
"Vielleicht. Wenn er denkt, dass jetzt alles unter seiner Kontrolle ist. Aber er macht aus allem eine Privatangelegenheit. Der Friedensprozess war eine exzellente Idee von ihm. Aber er hat ihn nicht mit den anderen Parteien abgestimmt. Die Nationalisten von der MHP hätten vermutlich abgelehnt, aber unsere CHP hätte mitgemacht. Dann hätte das Ganze ins Parlament eingebracht werden müssen, um den Prozess gesetzlich und verfassungsmäßig zu untermauern."
Hikmet Cetin hat zusammen mit Vertretern anderer Parteien in einem offenen Brief die Abgeordneten aufgefordert, nicht ihrer eigenen Entmachtung zuzustimmen. Auch wenn die Zahl der Parlamentarier mit der neuen Verfassung von 550 auf 600 steigt, wird das Parlament bedeutungslos sein, sagt Professor Hüseyin Bağcı von der METU-Universität in Ankara, für den der dann neue entmachtete Parlamentarismus nichts weiter wäre, als eine:
"Arbeitsbeschaffungsmaßnahme, 50 Leute weniger arbeitslos und gut bezahlt."
Faruk Faruk Logoglu vergleicht als ehemaliger Botschafter unter anderem in den USA die geplante türkische Verfassung mit anderen präsidialen Systemen und kann nur warnen.
"Er wird die Macht haben, Vizepräsidenten und Minister zu ernennen, Richter, hohe Beamte. Er hat die Macht, per Dekret zu regieren. Und er wird den Haushalt vorbereiten, ohne jede Rechenschaftspflicht. Der US-Präsident ist ein starker Mann, aber über das Geld wacht der Kongress."
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