Schnitzlers "Reigen" für das 21. Jahrhundert

"Ich sehe keine neue Prüderie auf der Bühne"

11:31 Minuten
Szenenfoto aus "Siebzehn Skizzen aus der Dunkelheit "nach Arthur Schnitzlers „Reigen“ von Roland Schimmelpfennig. Inszenierung Tina Lanik Inszenierung: Tina Lanik Bühne & Kostüme: Stefan Hageneier Musik: Cornelius Borgolte Licht: Felix Dreyer Dramaturgie: Carolin Losch Dramaturgieassistenz: Sarah Tzscheppan Auf dem Bild Katharina Hauter, Marco Massafra Foto: Katrin Ribbe
Mit "Siebzehn Skizzen aus der Dunkelheit" - hier eine Szene mit Katharina Hauter und Marco Massafra - liefert Roland Schimmelpfennig eine Neuinterpretation von Schnitzlers "Reigen". © Katrin Ribbe
Roland Schimmelpfennig im Gespräch mit André Mumot · 10.07.2021
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Der Dramatiker Roland Schimmelpfennig hat für das Staatstheater Stuttgart Schnitzlers "Reigen" aktualisiert: "Siebzehn Skizzen aus der Dunkelheit" thematisieren sexuelle Konflikte unserer Zeit. Wie inszeniert man in #MeToo-Zeiten Sex auf der Bühne?
Weit mehr als 30 Stücke hat Roland Schimmelpfennig geschrieben. Er ist nicht nur einer der produktivsten, sondern auch einer der erfolgreichsten und beliebtesten deutschsprachigen Gegenwartsdramatiker.
Nun hat er sich eines Theaterklassikers angenommen und Arthur Schnitzlers "Reigen", entstanden am Ende des 19. Jahrhunderts, neu interpretiert und in die Gegenwart geholt.
"Siebzehn Skizzen aus der Dunkelheit" heißt sein Stück über die sexuellen Sitten und Konflikte unserer Zeit, inszeniert von Tina Lanik. Eigentlich sollte die Uraufführung im Frühjahr am Staatstheater Stuttgart stattfinden – die Premiere aber musste wegen der Pandemie auf den 10. Juli verschoben werden.

Alte Konstellationen neu interpretieren

"Ich bin sonst kein großer Freund von Überschreibungen oder Überarbeitungen alter Stoffe", sagt Roland Schimmelpfennig. "Ich denke eigentlich, dass es eine Qualität von Theater ist, dass es sich diesen Stoffen dann auch stellt und sie immer wieder neu erfindet." Im Fall des "Reigen" allerderdings ergebe es keinen großen Sinn mehr, sich mit Konstellationen aus dem 19. Jahrhundert zu beschäftigen.
Spätestens seit der #MeToo-Debatte wird an den Theatern ganz neu darüber gesprochen, wie man mit sexuellen Inhalten auch auf der Bühne umgehen soll. Manche sprechen inzwischen von einer neuen Prüderie.
Roland Schimmelpfennig schließt sich diesem Tenor jedoch nicht an. "Ich persönlich sehe keine neue Prüderie in Bezug auf Sex auf der Bühne. Es gibt einen anderen Umgang mit der Thematik 'Männer und Frauen' und auch mit der Darstellung von Nacktheit im Sinne von: sinnvoll, nicht sinnvoll, wozu dient es?" Doch das empfinde er nicht als prüde, sondern als kritisch und in diesem Zusammenhang als Fortschritt.

Das Theater nimmt sich die Freiheit

Natürlich müsse man aufpassen, "dass die Dynamik, die Kunst und auch Theater braucht, jetzt nicht irgendeinem sonderbaren prüden Regelwerk zum Opfer fällt". Aber auch hier sieht der Autor keinen Grund zur Sorge. "Ich glaube, dass das Theater sich schon auch immer die Freiheit nehmen wird, die es braucht, um den Inhalten wirklich folgen zu können."
Auch eine Tendenz zum postdramatischen Theater gibt es an den deutschsprachigen Bühnen, eine Skepsis gegenüber allwissenden, oft männlichen Autoren, die sich, wie Roland Schimmelpfennig selbst, in jeden Konflikt und jede Figur hineinversetzen können.
"Das ist ja das Privileg von Theater und das Schöne am Theater", sagt der Dramatiker. "Es ist die Erfindung einer Welt. Es ist möglicherweise auch die Spiegelung oder direkte Abbildung, aber es kann immer auch das Gegenteil sein. Es öffnet sich vor den Augen des Publikums eine Fiktion."

Berauben wir uns eines Vergnügens?

Schon lange verteidigt Roland Schimmelpfennig den Wert des literarischen Theaters. "Ich habe nichts gegen Dokumentartheater, aber ich glaube nicht, dass es der einzige Weg ist. Ich fürchte, es ist eher eine Sackgasse und es hat auch schnell was Voyeuristisches."
Eine Frage treibe viele um: "Dürfen zum Beispiel Männer Frauenrollen schreiben oder andersherum?" Schimmelpfennigs Antwort ist: "Was für ein Wahnsinn! Dieser Ansatz beraubt uns – und das klingt jetzt sehr groß – als Menschen eines ganz großen elementaren Vergnügens: Die unmögliche Sehnsucht, dass wir nicht wissen, wie es wäre – könnte ich doch nur für fünf Minuten eine Frau sein. Oder für einen Tag meines Lebens."
(amu)
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