Nico Walker: "Cherry"

Eine Art literarische Selbsttherapie

06:27 Minuten
Tabletten liegen auf Dollarnoten
Eine Gesellschaft unter Drogen: In den USA greifen immer mehr Menschen zu Schmerzmitteln und andere Opioide. © Imago / Chromogrange
Von Thomas Wörtche  · 23.04.2019
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Nico Walkers "Cherry" verhandelt gleich drei brennende Themen der US-Politik: Veteranen, Opioid-Krise, Knast. Enttäuschend ist jedoch die Kunstlosigkeit des Romans.
Der Autor von "Cherry", Nico Walker, sitzt wegen mehrerer Banküberfälle im Gefängnis. Sein mehr oder weniger autobiographischer Erstlingsroman beschreibt den Weg dorthin: Aus einer Familie der unteren Mittelschicht aus den Suburbs von Cleveland, Ohio, stammend, Uni-Abbrecher, erste Kontakte mit Drogen respektive Medikamenten, Gelegenheitsjobs. Dann als Sanitäter bei der Army Einsätze im Irak, ohne nennenswerte psychologische Betreuung traumatisiert entlassen, Heroin-Sucht, Beschaffungskriminalität – schließlich Gefängnis.

Deprimierendes Bild

Die Drogenkarriere der namenlosen Hauptfigur zeichnet ein deprimierendes Bild der US-amerikanischen Gesellschaft der 2000er Jahre. Öde, sinnentleert, unbehaust. Eine Gesellschaft, die erst von der Pharmaindustrie mehr oder weniger ruhiggestellt ist, und dann zu den billigeren Drogen direkt vom Dealer greift. Die "Opioid-Epidemie", die Donald Trump als großes, neues Thema entdeckt hat, ist hausgemacht und hat eine lange amerikanische Tradition.
Eine Frau hält im August 2018 vor der Firmenzentrale von "Purdue Pharma" in Stamford, Conneticut, ein Plakat hoch, auf dem drei ihrer Söhne zu sehen sind, die aufgrund des Konsums von Heroien gestorben sind.
Angehörige protestieren gegen Firmen, die am Tod ihrer Kinder durch Drogen eine Mitschuld tragen. © picture alliance/dpa/Jessica Hil
Die Werbekampagne (und der gewaltige Hype) für Walkers Buch hebt darauf ab, es sei "der erste große Roman über die Opioid-Epidemie" (Klappentext) und übersieht dabei großzügig die Tradition, in der der Text steht. Spätestens seit Hubert Selbys "Letzte Ausfahrt Brooklyn" von 1964 ist die Zerstörung menschlicher Existenzen durch Drogen ein Dauerthema der amerikanischen Literatur. Und wenn man möchte, kann man auch Spuren von Jack Kerouacs assoziativem Stil oder Charles Bukowskis Macho-Posen finden, auch wenn diese Echos bei Walker eher erbärmlich anmuten.

Fragwürdiger Umgang mit Frauenfiguren

Besonders unangenehm stößt dabei Walkers Umgang mit den Frauenfiguren auf: Entweder sentimental-erhöhend oder verächtlich. Das mag natürlich milieubedingt sein, aber die sprachliche Inszenierung setzt dem Erzählten keinen Widerstand entgegen. Und da liegt das Problem: Die Kunstlosigkeit des Buches, den Verzicht auf "Plot" kann man benevolent als "kompromisslos", "authentisch", "erfahrungssatt" oder "knallhart" verstehen wollen, aber dann wäre es schwierig, irgendwo über das allseits Bekannte einen auf ästhetischem Weg erzeugten Erkenntnisgewinn auszumachen.
Ähnlich steht es bei den langen Kapiteln über den Kriegseinsatz der Hauptfigur im Irak. Tod, Wahnsinn, Langeweile, Frust, die Sinnlosigkeit solcher Kriege schließen nahtlos an die Reihe der Vietnam-Romane (Philip Caputo, Larry Heinemann u.a.) an, versetzt mit einem kräftigen Schuss "M.A.S.H" und den diversen multimedialen Irak-Kriegsnarrativen. Bei Walker allerdings ist das alles weniger wuchtig, weniger schlagkräftig.

Wenig erhellende Sozialreportage

Vermutlich sollte man das Buch als eine Art literarischer Selbsttherapie lesen, für die man dem Autor Respekt zollen kann. Aber "Authentizität" ist in der Literatur ein gefährliches Kriterium, zumindest wenn sie nicht ästhetisch gedeckt ist. Und so gerät "Cherry" letztendlich fatal nahe an eine Sozialreportage über beklagenswerte Zustände und beklagenswerte Schicksale, die allerdings weder besonders radikal noch originell noch besonders erhellend ist. Dass es keine Katharsis anbietet und kaum Selbstmitleid erkennen lässt, gehört allerdings zu den eher positiven Aspekten.

Nico Walker: "Cherry"
Deutsche Übersetzung von Daniel Müller
Heyne-Verlag, München 2019
379 Seiten, 22 Euro.

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