Corona als "Seniorenseuche"

Ein rissiger Mantel der Fürsorglichkeit

04:25 Minuten
Ein älterer Mann mit Atemschutzmaske nimmt sich einen Einkaufswagen.
"Die Alten" sollen nicht mehr einkaufen gehen und am besten ganz zu Hause bleiben, damit "die Jungen" die Wirtschaft retten können. Gefährlich, findet unser Autor Uwe Bork. © Getty Images / E+ /kmatija
Ein Kommentar von Uwe Bork · 17.04.2020
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Die Alten und Älteren sind derzeit vor allem: eine Risikogruppe. Der Journalist Uwe Bork gehört dazu. Weil manche die vom Virus gefährdeten Älteren nun gegen die Jüngeren ausspielen, fragt er besorgt, wie lange der gleiche Wert allen Lebens noch gilt?
Achtundsechzig bin ich jetzt, und das ist gerade kein so gutes Alter. Nicht, dass ich mich etwa schlecht fühlte, nein, kein trockener Husten, kein rauer Hals und so, aber dennoch: Wir Alten und Älteren – früher nannte man uns etwas freundlicher 'Seniorinnen und Senioren' – wir Alten und Älteren also sehen uns inzwischen weit weniger freundlich zusammengefasst unter dem unschönen Etikett der 'Risikogruppe'. Wir haben nämlich anscheinend die meisten Probleme mit den Coronaviren, tödliche Probleme.
Zugegeben, die Zahlen sprechen eine deutliche Sprache. Das Durchschnittsalter der Coronatoten in Deutschland liegt bei rund achtzig Jahren, Corona: die Seniorenseuche.

Generationen werden gegeneinander ausgespielt

Wir Alten und Älteren treiben also die täglichen Sterbezahlen nach oben und schüren damit eine folgenschwere Pandemiepanik. Kein Wunder, dass sie deshalb immer deutlicher zu hören sind, die ach so nüchternen Rechner, die die Generationen gegeneinander ausspielen.
Da stehen dann auf der einen Seite die Jungen und die Mittelalten, die augenscheinlich durch Corona nicht mehr bedroht werden als durch eine leichte Grippe. Auf der anderen Seite sammeln sich dagegen diejenigen, die den viralen Angriffen nicht mehr so viel entgegenzusetzen haben: Sie ahnen es, hier stehen wir, die Risikogruppe.

Werden die Älteren in Dauerquarantäne geschickt?

Das blühende Leben hie, das eher welke da, und in der Mitte die jäh gestoppte Wirtschaft, die es im Interesse aller möglichst schnell wieder zum Laufen zu bringen gilt. Da kann man doch schon einmal ganz nüchtern…
Kann man eben nicht, meine ich. Und man kann es noch nicht einmal dann, wenn man die kalten Fakten mit einem Mantel der Fürsorglichkeit umhüllt, wie es jüngst der grüne Tübinger Oberbürgermeister Boris Palmer getan hat. "Menschen, die über 65 Jahre alt sind, und Risikogruppen", so schrieb er in der Zeitung "Die Welt", "werden aus dem Alltag herausgenommen und vermeiden weiter Kontakte. Jüngere, die weniger gefährdet sind, werden nach und nach und kontrolliert wieder in den Produktionsprozess integriert."
Nett gemeint, Herr Palmer, aber möchte ich wirklich "aus dem Alltag herausgenommen" werden, was irgendwie doch nichts anderes heißt als in Dauerquarantäne geschickt, kaserniert und – ja, im schlimmsten Fall auch das – in Schutzhaft genommen?

Spalten und Risse in unserem Gemeinwesen

Nein, wir dürfen unsere Gesellschaft jetzt nicht noch mehr spalten als sie das ohnehin schon ist. Die Coronapandemie ist eine schwere Krise, die die gesamte Gesellschaft erfasst hat und die auch nur gemeinsam von ihr überwunden werden kann.
Ich will mir nicht später einmal den Vorwurf anhören müssen, ich hätte mit den anderen meines Alters in splendider Isolation abseits gestanden, währende andere, jüngere, für uns unsere Wirtschaft wieder in Schwung gebracht hätten.
Vielleicht habe ich aber auch Angst davor, dass die Tünche einer wie auch immer begründeten humanen Ethik, die die Spalten und Risse in unseren Gemeinwesen bisher überdeckt hat, doch dünner sein könnte als gedacht. Dass die Bekenntnisse zum gleichen Wert allen Lebens und zu seiner unbedingten Erhaltenswürdigkeit eben doch nur Tünche sind und kein felsenfestes Gesetz. Und dann, lieber Herr Palmer, dann Gnade uns Gott, wenn wir Älteren schon "aus dem Alltag herausgenommen" wurden.

Einige Stimmen machen zunehmend nervös

Zu pessimistisch, meinen Sie? Ich glaube nicht, denn immerhin gibt es auch heute bereits Fragen wie: "Ist es richtig, dass 10 Prozent der - wirklich bedrohten - Bevölkerung geschont, 90 Prozent samt der gesamten Volkswirtschaft aber extrem behindert werden, mit der unter Umständen dramatischen Konsequenz, dass die Basis unseres allgemeinen Wohlstands massiv und nachhaltig erodiert?" Der Finanzexperte und Investmentbanker Alexander Dibelius spricht so, und er ist leider nicht der einzige.
Mich machen solche Stimmen zunehmend nervös.
Als Achtundsechzigjähriger und als Mensch.

Uwe Bork studierte Sozialwissenschaften und war bis Ende 2016 Leiter der Fernsehredaktion "Religion, Kirche und Gesellschaft" des Südwestrundfunks in Stuttgart. Er lebt als freier Journalist in Esslingen und ist Autor mehrerer Sachbücher, vor allem zum Thema Religionen, dazu zahlreicher "Politischer Feuilletons" im Deutschlandfunk Kultur.

© Deutschlandradio / Manfred Hilling
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