"Ahwar" von Nadah El Shazly

Desorientierung als Genuss

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Sängerin und Elektronikerin: Nadah El Shazly © credit: Alan Chies
19.12.2017
Von Misfits-Covern in den Club und zur elektronischen Avantgarde: Nadah El Shazly hat einiges im Repertoir. Auf ihrem Debütalbum "Ahwar" macht sie so gut wie alles selbst: singen, spielen, komponieren, produzieren. "Ahwar" erzählt, warum es gut sein kann, sich zu verirren.
Am Anfang dieses Albums klingt Nadah El Shazlys Stimme bis zur Unkenntlichkeit digital entstellt. Später dann: hell und klar. "Ich komme aus einer fernen Zeit / Gehe, fliehe/ Allein in der Wildnis", singt sie. Motive und Stimmungen vom Aufbruch ins Unbekannte, Verirren, Desorientierung, durchwirken ihr Debütalbum "Ahwar" – was gar nicht nur bedrückend gemeint ist.
"Der Titel bedeutet 'Feuchtgebiet', und Feuchtgebiete sind mit diesem Gefühl verbunden, dass du nicht mehr weißt, wo du bist. Du kannst deinen Weg nicht zurückfinden, wenn du den Ort nicht kennst. Es ist ein neuer Platz, ein neues Abenteuer."

Schwebezustände und Zwischenorte

Ein Abenteuer war auch die Entstehung des Albums – musikalisch wie geografisch. "Ahwar" wurde zwischen Kairo und Montreal eingespielt. In intensiver Zusammenarbeit mit Sam Shalabi, einem in Alexandria geborenen Avantgarde-Musiker, der seit langem in Montreal lebt und heute internationalen Ruf genießt. Viele Musiker von Shalabis "Land of Kush"-Ensemble haben auf Ahwar mitgewirkt.
Auch das Stück "Barzakh" bezeichnet etwas dazwischen – einen Schwebezustand:
"Barzakh hat zwei Bedeutungen. Eine geografische, es ist der Ort zwischen Salz- und Süßwasser, damit sie sich nicht miteinander mischen. Und es gibt eine andere Bedeutung: der Platz nach dem Tod und bevor man wieder aufwacht. Auf Englisch kann man auch sagen 'Limbo'."

Musik aus der Vergangenheit für die Musik der Zukunft

Auf "Ahwar" verbindet El Shazly akustische arabische Instrumente mit neuester digitaler Produktionstechnik. Als Gastkomponistin am Elektron Musikstudion des schwedischen Radios, dem Pendant zum legendären Studio Elektronische Musik des WDR, verfügt sie über das ganze Spektrum der elektronischen Klangerzeugung. Quellen ihrer musikalischen Freiheit findet sie aber genauso in 100 Jahre alten Formen.
"Für mich hat klassische arabische Musik von den 1920ern, 1930ern und auch davor sehr viel Eigenschaften von Musik aus der Zukunft und nicht der Vergangenheit. Es ist sehr frei von einem bestimmten Rhythmus oder einem bestimmten Tempo – und das ist etwas aus der Zukunft. Wie man etwas...– how you can free yourself from these very important … Eigenschaften von Musik."
Melodien und Motive aus ein paar Tönen, die sich konstant wiederholen, Schleifen, Loops bilden, einen elegischen, hypnotischen Groove erzeugen, über den diese unverwechselbare Stimme singt. El Shazlys Musik klingt wie nichts sonst.
Der Ohrwurm des Albums heißt "Palmyra". Ein Stück, das nicht nach der syrischen Weltkulturerbe-Stadt benannt wurde, die im Krieg zerstört wurde. Sondern vielmehr, weil neueste ägyptische Urlaubs-Resorts so genannt werden. Was man auch als Prinzip dieses Albums betrachten kann: Orient-Klischees im Dienste des globalen Tourismus. Syrien, Ägypten – Hauptsache Italien! Für Künstler wie El Shazly ist entortete Globalisierung aber nicht das Problem, darüber ist sie längst hinaus. Unübersichtlichkeit und Desorientierung sind Risiko und Chance. Mit dieser Platte kann man genießen, nicht zu wissen, wo man ist.
"Ahwar" (Nawa Recordings / Cargo) ist bereits erschienen.
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