Solmaz Khorsands „Pathos“

Erfolgreich überrumpeln

07:01 Minuten
Cover des Buchs "Pathos" von Solmaz Khorsand
Es gibt Hoffnung: Jeder kann es für sich selbst versuchen, die Dinge ein bisschen tiefer zu hängen. © Deutschlandradio / Kremayr & Scheriau
Von Martin Tschechne · 17.07.2021
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In ihrem angriffslustigen neuen Buch entlarvt die Wiener Journalistin Solmaz Khorsand das Pathos als ein moralisch fragwürdiges Instrument der Manipulation. Ohne das allerdings fast niemand auskommt, weil es süchtig macht wie eine Droge.
Mit allem Respekt, aber eine freundliche Warnung ist geboten: Dieses Buch ist angriffslustig. Immer wieder tritt es auch denjenigen vors Schienbein, die überhaupt nicht damit rechnen: die Sensiblen, die Guten, die Achtsamen - eben weil die so felsenfest davon überzeugt sind, es wirklich nicht verdient zu haben. Insofern praktiziert das Buch genau das, was Gegenstand seiner Analyse ist. Nämlich Pathos.

Pathos ist Inzenierung und Simulation

Erste Assoziation: Pathos ist Kitsch, schwülstige Übertreibung, das, was ein schlechter Schauspieler tut, wenn er Gefühle simuliert. Tatsächlich bestätigt die Autorin Solmaz Khorsand diesen Bezug zum Theater: Pathos ist eine Inszenierung, also Simulation.
"Pathos braucht eine Bühne", schreibt sie. "Und vor allem ein Publikum. Die eigene Überwältigung, Empörung oder Kränkung muss schließlich irgendwo bei irgendwem resonieren" - also ein Echo erzeugen, eine Vibration. "Erst dann kann sich das Pathos entfalten. Erst dann provoziert es eine Reaktion von Solidarität oder Abwehr, von Teilhabe oder Ausgrenzung - und letztlich von Macht oder Ohnmacht."

Empirie und Begriffsgeschichte

Khorsands Methode ist dabei sozusagen empirisch: Sie belegt ihre Thesen durch Beispiele. Sie erzählt Geschichten aus dem Leben in einer Gesellschaft, in der fast alle fast immerzu um Aufmerksamkeit kämpfen. Also: keine Angst vor wissenschaftlicher Sprödigkeit.
Stattdessen gönnt die Autorin sich und ihren Lesern den Luxus, auch mal in die Geschichte des Begriffs vorzudringen. Vielleicht fällt ihr das leicht, weil sie in Wien lebt und man dort ein bisschen entspannter auch mit der klassischen Kultur umgeht.
Sie verfolgt den Begriff zurück bis zu Aristoteles, bis zur Poetik und Rhetorik, zur griechischen Tragödie. Pathos ist dort ein zentrales Element der Dramaturgie: Ethos, Logos und Pathos. Es ist ein Appell an die Emotion, es weckt Gefühle da, wo Inhalt und Argumente an ihre Grenzen stoßen.

Entscheidend sind Timing und Lautstärke

Damit wird auch der Bezug zur Gegenwart sofort klar: Pathos ist Macht oder zumindest der Versuch, ein Gefälle herzustellen. Es lässt sich gezielt und schlau einsetzen, um einen gewünschten Effekt zu erzielen. Das heißt, jeder wäre gut beraten, vor dem Pathos der anderen auf der Hut zu sein. Der Titel eines Kapitels im Buch sagt es deutlich: "Pathos ist PR".
Allerdings verfolgt Khorsand mit ihrer Argumentation eine ganz andere Absicht - nämlich Aufklärung. Sie verrät, wie es funktioniert. Manchmal klingt das tatsächlich fast wie eine Gebrauchsanleitung.
"Wer mit seinem Pathos erfolgreich überrumpeln will", schreibt sie etwa, "der muss das richtige Maß finden, das richtige Timing, die richtige Lautstärke." Sonst nämlich laufen pathetische Formen der Selbstdarstellung Gefahr, sich abzunutzen. Sie werden schnell als zu laut empfunden, zu penetrant, ihre Gesten holen zu weit aus - und der Versuch, andere für die eigene Sache zu gewinnen, bewirkt das Gegenteil: Pathos geht auf die Nerven, wird als dreist empfunden; die Rollen von Täter und Opfer wenden sich in ihr Gegenteil.
Wer heult am Ende, wenn schwarze und weiße Amerikaner über den Rassismus in ihrer Gesellschaft reden? Die Soziologin Robin DiAngelo hat es in ihren Seminaren erlebt, Khorsand erzählt davon: Es sind die Weißen, die getröstet werden wollen.

Angefixt nach dem Mord an George Floyd

Mit einem moralischen Urteil hält die Autorin sich zurück. Pathos ist eine Tatsache. Aber es hilft ungemein, sich der Situationen, der Absichten und der Wirkungen bewusst zu sein. Genau das will die Autorin erreichen. Sie analysiert, weist auf Brüche und Paradoxien hin und liefert als Erklärung eben so etwas wie den Verschleißeffekt.
Ich halte das für sehr legitim, verdienstvoll, oft sogar für wohltuend. Wer wird denn bloßgestellt, wenn etwa Mediziner von einer "Morbus Bosporus" tuscheln und damit andeuten wollen, dass manche Menschen aus manchen Kulturen ihre Krankheit nur simulieren? Also Pathos einsetzen. Natürlich sind es die Mediziner selbst, die am Ende als Zyniker dastehen!
Oder das Beispiel Rassismus: Seit dem schrecklichen Tod des US-Amerikaners George Floyd sind wir alle sehr sensibel geworden für diese Ebene von Ausgrenzung und Gewalt. "Der weiße Mainstream war angefixt", kommentiert Khorsand. Das mag kalt klingen, aber wie sonst wäre die Gleichgültigkeit zu erklären, mit der dieser Mainstream auf all die Fälle von Rassismus bis dahin reagiert hatte? Und wie der plötzliche Eifer, mit dem Straßen umbenannt und Nippesfiguren aus der Schaufensterauslage entfernt wurden?

Ein kleiner Funken Hoffnung

Eben damit, dass Pathos eine Droge sein kann. Khorsand analysiert das nüchtern und zieht ihre Schlüsse ganz ohne Pathos: Es muss heftig kommen, so fasst sie ihre Befunde zusammen. Und es muss immer wieder kommen. Sonst bewirkt Pathos das Gegenteil: Es bestätigt diese ewige, fundamentale Trennung in "wir" und "die anderen". Es festigt das Gefälle, das es eigentlich beklagen möchte.
So kann es passieren, dass eine weiße Frau, Amy Cooper, im New Yorker Central Park sehr wirkungsvoll damit drohen kann, einen schwarzen Spaziergänger bei der Polizei wegen sexueller Nötigung anzuzeigen, nur weil er sie gebeten hatte, ihren Hund an die Leine zu nehmen. Die Welt war empört, als das Video der kleinen, hässlichen Szene in den sozialen Medien auftauchte. Die Hoffnung jedoch, dass sich damit Einsicht verbreiten würde, wird wohl enttäuscht werden.
Pathos ist ja ein Transportmittel für die eigene Sache und dabei verführerisch leicht einzusetzen. Kein Wunder, dass es schon in der klassischen Antike so gründlich durchdekliniert wurde. Wahrscheinlich ist Pathos einfach eine zwischenmenschliche Konstante.
Wobei Solmaz Khorsand dann doch noch einen Funken Hoffnung aufglimmen lässt: Jeder kann es ja mal für sich selbst versuchen. Die Dinge ein bisschen tiefer hängen. Einfach mal die Klappe halten.

Solmaz Khorsand: "Pathos"
Verlag Kremayr & Scheriau, Wien 2021
128 Seiten, 16 Euro

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