John Lanchester im Kampf gegen den Klimawandel

Eine Zukunft, die nicht Wirklichkeit werden soll

Der britische Schriftsteller John Lanchester beim Edinburgh Book Festival 2014
Der britische Schriftsteller John Lanchester fordert ein Umsteuern in der Klimapolitik © picture alliance / Photoshot
Moderation: Dieter Kassel · 29.01.2019
Der Bestsellerautor John Lanchester mahnt zum Umsteuern in der Klimapolitik. In seinem neuen Roman "Die Mauer" hat er ein Untergangsszenario entwickelt, von dem er nicht will, dass es einmal Wirklichkeit wird.
Als der britische Schriftsteller John Lanchester anfing, den Roman "Die Mauer" zu schreiben, schien der Brexit noch nicht realistisch. Nun hat er in seinem neuen Werk eine Zukunftsvision entwickelt, die visionär und zugleich realistisch wirkt. Er beschreibt darin eine Welt nach einer Klimakatastrophe und mahnt dazu, möglichst bald umzusteuern.
"Jetzt entscheidet sich, wie man unsere Generationen der Zukunft einschätzen wird, weil vom wissenschaftlichen Standpunkt her ist alles klar", sagt Lanchester im Deutschlandfunk Kultur. Die Klimakonferenz in Katowice habe im Januar klar aufgezeigt, dass sich das Schlimmste nur abwenden lassen, wenn die Erderwärmung bei 1,5 Grad plus gehalten werde. (gem)

Das Interview im Wortlaut:

Dieter Kassel: In Deutschland und in anderen Ländern gehen viele junge Menschen freitags nicht mehr zur Schule, sondern sie demonstrieren gegen den Klimawandel und dagegen, dass die Erwachsenen nicht genug unternehmen, um ihn zu stoppen. Im neuen Roman des britischen Autors und Journalisten John Lanchester, "Die Mauer", müssen alle jungen Männer und Frauen des Landes diese Mauer rund um Großbritannien verteidigen gegen die anderen, deren Heimat durch den Klimawandel unbewohnbar geworden ist und die deshalb nach England wollen.
Mit ihren eigenen Eltern können diese jungen Menschen kaum noch kommunizieren, weil sie ihnen die Schuld geben an dem, was passiert ist. Ich habe John Lanchester deshalb gefragt, ob unsere Generation – ich bin 50, er ist ein paar Jahre älter als ich –, ob er unsere Generation anklagt mit diesem Roman.
John Lanchester: Ja, in gewisser Weise schon, weil jetzt entscheidet sich, in welche Richtung wir gehen werden. Jetzt entscheidet sich, wie man unsere Generationen der Zukunft einschätzen wird, weil vom wissenschaftlichen Standpunkt her ist alles klar. Das hat ja die Konferenz in Katowice im Januar ganz klar aufgezeigt, dass wenn man die Erderwärmung bei 1,5 Grad plus seit der industriellen Revolution hält und sofort, also ganz dringend handelt, dann kann man noch das Schlimmste abwenden. Bisher ging man ja immer von zwei Grad Erderwärmung aus, aber wir müssen jetzt handeln. Nur so können wir von der jungen Generation nicht dafür verantwortlich gemacht werden, was die Zukunft bringt.
Maschinen der Fluggesellschaft British Airways auf dem Flughafen Heathrow. 
Flugreisen in den Urlaub gehören zu den Klimakillern, kritisiert der Autor John Lanchester © imago / Frank Sorge
Kassel: Viele Menschen, die den Klimawandel keineswegs bestreiten, bleiben aber erstaunlich ruhig. Sie fahren weiterhin große Autos, machen Flugreisen. Haben Sie dafür eine Erklärung?
Lanchester: Also teilweise ist das wirklich so, aber ich würde es anders sagen. Ich würde nicht sagen, dass man an den Klimawechsel glaubt, es ist einfach ein Fakt. Man muss das wissenschaftlich einfach akzeptieren. Da mache ich einen Unterschied. Das hat mit Glaube nichts zu tun, sondern einfach damit, dass man das, was Wissenschaftler herausgefunden haben, auch wirklich akzeptiert, aber das tun wir Menschen nicht.
Wir verdrängen es sehr gerne, wir streiten es gerne ab, und auch wenn wir ganz genau wissen, in welche Richtung wir gehen und auch wenn wir theoretisch bereit sind, etwas gegen die Erderwärmung zu tun, stellen wir uns das trotzdem so monströs vor, das ist eine so schreckliche Vorstellung, die einfach unvorstellbar ist. Damit wollen wir uns dann nicht auseinandersetzen.
Wir denken uns, das kann einfach nicht wahr sein. Das heißt, wie Sie es erwähnt haben, man mag theoretisch damit einverstanden sein, fährt aber trotzdem noch das große Auto, fliegt mit dem Flugzeug zweimal ins Ausland in die Ferien, und man sieht dieses helle Licht, aber man schaut einfach nicht hinein.

Szenario einer möglichen Zukunft

Kassel: In Ihrem Roman sind große Teile der Erde unbewohnbar, und die Mauer rund um Großbritannien soll die Menschen abhalten, die deshalb auf der Flucht sind. Das klingt ungerecht, wenn man es liest, klingt es sogar böse, aber wenn es so käme, was wäre die Lösung, wie könnten ungefähr sechs Milliarden Menschen auf nur ungefähr zehn Prozent der Erde gemeinsam überleben?
Lanchester: Ja, deswegen muss man es verhindern, dass es so geschieht. Meine Ambition mit diesem Buch ist, alles dafür zu tun, dass sich diese Zukunft nicht bewahrheitet. Ich sage auch nicht, das ist die Zukunft, ich sage, es ist eine mögliche Zukunft, aber wir sind verpflichtet zu handeln, weil wenn Sie, wie Sie richtig erwähnen, wenn man sich die Weltkarte anschaut, wo sich überall die Temperatur um vier Grad erwärmt hat, dann ist es etwas, was ich nur all Ihren Hörern raten kann, einfach mal zu googlen.
Das bedeutet, dass viele Teile des Planeten unbewohnbar werden, und zwar auch solche, die ganz dicht besiedelt sind: Paris, Madrid und New York liegen auf einem Breitengrad, und dort wäre kein Leben mehr möglich, und wenn so viele Menschen dann woanders leben müssten und vertrieben werden, dann hat das Ausmaße, die noch gravierender sind als ein Weltkrieg für die Gesellschaft. Soweit darf es einfach nicht kommen, soweit dürfen wir nicht gehen, und damit könnten wir auch nicht umgehen.
Ausgetrocknete Erde eines ehemaligen Ackers mit Trockenrissen in Israel
Die Gefahren des Klimawandels stehen im Mittelpunkt des Buches "Die Mauer". © imago stock&people / blickwinkel M. Schaef
Kassel: Aber stellt sich hier nicht wirklich eine unmoralische Frage, die Frage nämlich, ob wir wirklich überleben können, wenn wir wollen, dass alle überleben?
Lanchester: Oh, das können wir sehr wohl. Das war ja genau das, was bei der Konferenz in Katowice eigentlich herausgekommen ist, dass wenn wir es schaffen, die Erderwärmung bei 1,5 Grad zu halten, dass da schon zwei Grad katastrophale Auswirkungen haben könnte für hunderte Millionen von Menschen, die man aber noch vor so einer Katastrophe retten kann, wenn man sich bei 1,5 Grad hält.
Heute liegen wir in etwa bei einem Grad Erderwärmung, und selbst wenn wir das stoppen würden, würden immer noch für Jahrhunderte lang die Eiskappen schmelzen, weil das ein Prozess ist, der sich über Jahrzehnte, Jahrhunderte hinwegzieht. Aber, wie gesagt, wenn wir sofort all das umsetzen, was man in Katowice verlangt hat, dann könnten wir noch in einer Realität leben, die noch für uns erkennbar ist.
Alles, was über zwei Grad Erderwärmung ausmachen würde, wäre, dass alles, was wir kennen, alles, an das wir uns gewohnt haben, verschwinden würde. Bloß dem muss man ins Auge schauen, und das ist das Problem. Wir wollen diesen Dingen normalerweise nicht ins Auge schauen, aber das muss man tun, und wenn man das tut, dann muss man auch sofort handeln.

Kohlekraftwerke abschalten vs. Fernreisen streichen

Kassel: Es geht, wie ich finde, in Ihrem Buch sehr stark um Gerechtigkeit, und da merkt man dann auch sehr schnell, dass das nicht einfach ist, diese Frage, was gerecht ist. Nehmen wir ein ganz konkretes Beispiel: England ist eine Klassengesellschaft, auch in Ihrem Buch, es gibt die sogenannte Elite, und die darf noch fliegen und benutzt Flugzeuge, alle anderen nicht mehr. Das klingt sehr ungerecht, aber wenn wir uns vorstellen, in unserer Welt wäre fliegen wieder so teuer wie vor 50 Jahren, dann wäre das wieder etwas für die Elite, für die Reichen, aber es wäre doch gut für den Klimaschutz.
Lanchester: Nun, das wird wahrscheinlich auch so kommen. Das ist alles nur eine Frage der Zeit. Fakt ist, der Klimawandel kommt, und die zwei größten Faktoren für den CO2-Ausstoß sind Verbrennungsmotoren und sind das Reisen, aber das sind natürlich Entscheidungen, die Millionen von Menschen auf verschiedenste Art und Weise täglich machen müssen.
Wenn wir uns noch mal genau den CO2-Ausstoß anschauen, dann besteht der zur Hälfte auch aus dem Ausstoß von Kohlekraftwerken. Es gibt weltweit noch etwa 3.000 Kohlekraftwerke, und wenn man die komplett abschalten würde, hätte man schon sehr viel erreicht. Das ist realistischer als sich vorzustellen, dass niemand mehr nach New York fliegt oder niemand mehr sein Auto zur Arbeit nimmt.
Blick auf das Braunkohlekraftwerk Niederaußem der RWE Power AG in Bergheim-Niederaußem
Der Autor John Lanchester würde am liebsten alle 3000 Kohlekraftwerke weltweit abschalten. © pa/Geisler
Bloß es muss sich etwas ändern, und wahrscheinlich werden zukünftige Generationen auch ihre Einstellung ändern, aber jetzt, wenn man jetzt ganz konsequent etwas tun will und ich eine Art Manhattan-Projekt verantworten würde, dann würde ich sofort den Stecker ziehen und 3.000 Kohlekraftwerke einfach abschalten.
Kassel: Großbritannien ist in Ihrem Buch ein Land, das sich in komplette Isolation begeben hat aufgrund dessen, was passiert ist durch die Mauer. Sie beschreiben das sehr ausführlich. Ist der Brexit, den wir jetzt gerade erleben, der erste Schritt tatsächlich in diese Richtung?
Lanchester: Nun, ich hoffe, dass es nicht so ist, aber ich hatte, ehrlich gesagt, den Brexit nicht im Kopf, als ich das Buch geschrieben habe. Den Klimawandel hatte ich durchaus im Kopf, aber natürlich gibt es viele Metaphern, mit denen man arbeitet, und bewusst überlappen sich dann einige Metaphern auch mit der Realität.
Es gibt natürlich gewisse Trends in der Politik, auch in der Wirtschaft, und wenn man sich das wie eine Strichellinie vorstellt, die in eine gewisse Zukunft, in eine gewisse Isolation führt, dann gibt es wahrscheinlich zwei Richtungen, in die sich die Gesellschaft verändern könnte, und der Brexit würde mir die Strichlinie verfolgen, die dann irgendwann in einer nahen Zukunft zu einer Isolation führen könnte.

Interessante Reaktionen der Leser

Kassel: Ich werde nichts über den zweiten Teil Ihres Romans verraten. Man kann das grob aufteilen in einen ersten und einen zweiten, den ersten innerhalb dieser Mauer, den anderen nicht mehr. Ich werde nichts darüber verraten, weil es sehr viele spannende und unerwartete Wendungen da gibt. Eines sage ich aber: Kavanagh, die Hauptfigur, stirbt nicht, er lebt am Ende des Buches, und ich finde, das ruft regelrecht nach einer Fortsetzung. Planen Sie vielleicht eine solche Fortsetzung?
Lanchester: Nein, daran denke ich zurzeit nicht, aber ich stelle mir schon vor, dass der zweite Teil des Buches doch sehr auch die Fantasie des Lesers anspricht. Gerade wenn man sich den Tonfall gegen Ende des Buches anschaut, habe ich sehr interessante Reaktionen von Lesern bekommen, ganz egal, ob es um Kavanagh geht oder um die Welt, in der er lebt. Da, glaube ich, kann jeder Leser sich sein eigenes Bild machen.
Kassel: Und das kann man ab dieser Woche auch in deutscher Sprache, denn die deutsche Ausgabe von "Die Mauer", dem neuen Roman von John Lanchester, erscheint in dieser Woche bei uns. Das Gespräch mit ihm hat Jörg Taszman übersetzt.
Äußerungen unserer Gesprächspartner geben deren eigene Auffassungen wieder. Deutschlandfunk Kultur macht sich Äußerungen seiner Gesprächspartner in Interviews und Diskussionen nicht zu eigen.

John Lanchester, Die Mauer, Klett Cotta Verlag, 24 Euro.

Mehr zum Thema