Sucher nach der Wahrheit

Von Christian Linder · 23.06.2006
Mit seinen in den 50er Jahren kurz hintereinander erschienenen Büchern "Tauben im Gras", "Das Treibhaus" und "Der Tod in Rom" begründete Wolfgang Koeppen den westdeutschen politischen Roman. Vor 100 Jahren wurde Koeppen in Greifswald geboren. Er starb im März 1996 in einem Münchner Pflegeheim.
Gebeten, seine Lieblingsmusiken vorzustellen, kam Wolfgang Koeppen sofort auf Beethoven zu sprechen:

"Wenige verstehen, welch ein Thron der Leidenschaft jeder einzelne Musikeinsatz ist, und wenige wissen, dass die Leidenschaft der Thron der Musik ist."

Die Leidenschaft war auch der Thron der Koeppenschen Wortmusik. Geprägt von einer großen inneren Dichte wie Weite, durchzieht die Prosa dieser flutenden Sätze, aber immer auch ein dunkler Ton, die Melancholie. In seinem ersten Roman "Eine unglückliche Liebe" liebt ein Mann leidenschaftlich, aber vergeblich eine Schauspielerin.

"Sie lachten beide, und sie wußten, daß nichts sich geändert hatte, und daß die Wand aus dünnstem Glas, durchsichtig wie Luft und vielleicht noch schärfer die Erscheinung des anderen wiedergebend, zwischen ihnen bestehen blieb. Es war dies eine Grenze."

Der Roman war 1934 im berühmten Berliner Verlag Bruno Cassirers erschienen, dessen Lektor Max Tau auf Koeppen aufmerksam geworden war durch einige feuilletonistische Arbeiten im "Berliner Börsen-Courir" und der ein bedeutendes Talent erahnte. Tau schrieb dem Autor einen Brief und erinnerte sich später:

"Am nächsten Tag trat er in mein Büro, schüchtern und so verstreut, dass man meinte, er hätte sich am liebsten versteckt. Wie er so vor mir stand, absichtlich gebückt, war ich verwundert. Aber sobald er sprach, spürte ich, dass ich hier Recht behalten würde."

Max Tau ermunterte Koeppen damals, diesen ersten Roman "Eine unglückliche Liebe" zu schreiben. Das Erscheinen des Buches stand zu Anfang der Nazi-Zeit aber unter einem unguten Stern. Verlorene Zeit. Erst nach 1945 konnte Koeppen die modernen Schreibtechniken eines William Faulkner, John Dos Passos oder James Joyce aufgreifen und in seinen Anfang der 50er Jahre kurz hintereinander geschriebenen und veröffentlichten Büchern "Tauben im Gras", "Das Treibhaus" und "Der Tod in Rom" den westdeutschen politischen Roman begründen.

Der Blick, den Koeppen Anfang der 50er Jahre von der jüngsten deutschen Vergangenheit her auf die junge, von Währungsreform und Wiederaufrüstung geprägte westdeutsche Nachkriegsgesellschaft warf, ließ ihn zum Ärgernis werden. Das freute ihn. Denn:

"Wir alle leben mit der Politik, sind ihre Objekte, vielleicht schon ihre Opfer. Es geht buchstäblich um Kopf und Kragen. Wie darf da der Schriftsteller den Vogel Strauß mimen?"

Nach diesen drei politischen Romanen hat Koeppen Reisebücher veröffentlicht, "Nach Rußland und anderswohin" oder "Amerikafahrt", die er selber als "Umweg" zu einem neuen Roman begriff. Den hat er aber nicht mehr geschrieben. Das Schweigen Wolfgang Koeppens als politischer Romancier wurde ein großes Thema der deutschen Nachkriegsliteratur. Koeppen selber hat dieses Schweigen mit persönlichen Schwierigkeiten erklärt:

"Mein Tag ist mein großer Roman, mein Leben ist es, die Welt, das Universum, die Mathematik, das Geheimnis dahinter, die Unlösung, das Unheimliche, die Freude. Furcht, dies aufzuschreiben. Unmöglich, den Teil für das Ganze zu nehmen. Das geht nicht mehr. Und der berühmte Griff ins volle Menschenleben? Es ist nicht mehr so interessant, wo man es packt. Und packt es einer? In Konkurrenz mit dem Statistischen Jahrbuch? ... Der Schriftsteller muß seine eigene Wahrheit suchen, die Wirklichkeit seines Sehens, um töricht zu hoffen, sehend zu machen."

Koeppens eigene Wahrheit war die Wahrheit des poetischen Augenblicks, die er in zahlreichen autobiografischen Äußerungen festzuhalten versucht hat, in dem Prosafragment "Jugend" etwa oder in den Erzählungen des Bandes "Romanisches Café". Geboren am 23. Juni 1906 in Greifswald und aufgewachsen in den masurischen Wäldern, liebte er in seiner Jugend die schwarze Fahne der Anarchie. Ein Einzelgänger und Außenseiter, dem immer die Fähigkeit fehlte, sich anzupassen, verwandt den Hauptfiguren seiner Bücher wie dem Bundestagsabgeordneten Keetenheuve aus dem Bonn-Roman "Das Treibhaus", der in seinem Büro Gedichte von Baudelaire übersetzt und als Pazifist für das vergebliche Trotzdem kämpft. Wie Keetenheuve lebte auch Koeppen als Schriftsteller fern der Illusion einer Gemeinschaft, eines gemeinsam zu erringenden Sieges. In seiner Dankrede zur Verleihung des Georg-Büchner-Preises 1962 beschwörte Koeppen seine Idee vom Schriftsteller:

"Der Schreibende wird sich dem neuen heraufziehenden Analphabetentum von Bildzeitungen, Comicstrips, Fernsehen und auf hö-herer Ebene von technischen Formeln stellen müssen. Robert Musil behauptete, man könne leichter prophezeien, wie die Welt in hundert Jahren aussehen, als wie sie in hundert Jahren schreiben werde. Ich meine, wir wissen nicht einmal, mit welchem Griffel sie schreiben wird. Diesen Griffel führen - und sei er ein Strahl, eine Lichtquelle, ein Unsichtbares aus Nichtmaterie - kann nur der Dichter, denn ohne die ihm geschenkte Gnade werden die Mitteilungsapparate der Gedanken, der Worte, der Bilder nur ein Geräusch erzeugen, Geräusch und Schatten und Wind und den letzten Tornado, der alles begräbt. Ich glaube an das Wort."