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Schneller sehen als die Realität
Das Gehirn überholt das Auge

Die Augen sehen die Welt um uns herum und das Gehirn erzeugt ein passendes inneres Bild. Das sollte man zumindest glauben. Doch das innere Bild wird auch von den Erwartungen des Gehirns geprägt und die sind der Realität sogar einen kleinen Schritt voraus.

Von Volkart Wildermuth | 24.05.2017
    Ein blaues, menschliches Auge in einer Nahaufnahme.
    Die Netzhaut wandelt Licht in elektrische Impulse um, die werden über Nervenfasern in den Hinterkopf weitergeleitet. (dpa / picture alliance / John Stillwell)
    Wahrnehmung ist Nervenarbeit und die braucht Zeit. Die Netzhaut wandelt Licht in elektrische Impulse um, die werden dann über Nervenfasern in den Hinterkopf weitergeleitet. Dort in der Sehrinde des Gehirns ist jede Nervengruppe einem Fleck in der Außenwelt zugeordnet. Ihre Aktivität entspricht also tatsächlich so etwas wie einem inneren Bild. Weitere Nervenzentren nutzen diese Informationen um erst Farben und Linien und später Objekte und Bewegungen zu erkennen. So entsteht aus einzelnen Impulsen eine innere Szene, ein Erleben. Aber wie gesagt, das braucht etwas Zeit.
    "Also das heißt, alles was wir eigentlich gerade sehen, ist in der Vergangenheit passiert, 150-200 ms in der Vergangenheit. Und das ist meist nicht besonders schlimm. Aber bei einigen Sachen wie auf der Autobahn, kann es dann doch relevant sein", sagt der Hirnforscher Matthias Ekman von der Radboud Universität in Nijmegen. Dort in den Niederlanden hat er erforscht, wie wir trotzdem ein schnelles Auto fahren oder einen Tennisball zurückschlagen können.
    Um dem Gehirn auf die Schliche zu kommen, musste er die Situation allerdings vereinfachen. Seine Versuchspersonen sahen auf einem Bildschirm, wie sich ein Lichtpunkt in vier Schritten von links nach rechts bewegt, immer und immer wieder. Hundertmal. Dabei beobachtete Matthias Ekman die Nervenaktivität in der Sehrinde. Weil die Forscher nur diese kleine Hirnregion untersuchten, konnten sie sehr schnell messen und einen kurzen Film direkt aus dem Gehirn aufzeichnen. "Dann sieht man eben wie erwartet, diese vier Punkte erscheinen."
    Die Erwartung ist der Realität zeitlich voraus
    Außenwelt und Gehirn laufen parallel, nur etwas Zeit verzögert. Spannend wurde es, als Matthias Ekmann dann den Punkt nicht in der gewohnten Vierersequenz erscheinen ließ, sondern nur einmal in der Anfangsposition am linken Rand.

    "Und da könnte man sagen, ok dann sollte das Gehirn auch nur einen Punkt abbilden, weil das ist ja das, was gezeigt wird. Aber was wir gefunden ist, dass der visuelle Kortex alle vier Punkte zeigt. Das heißt, von dem Startpunkt aus komplementiert er die Sequenz so, dass dort vier Punkte auch zu sehen sind."
    Zugegeben, die Signale sind etwas schwächer, eher eine Art Geisteraktivität. Aber trotzdem: Realität und Nervenaktivität klaffen auseinander. Offenbar erwarten höhere Gehirnzentren, dass hier vier Punkte nacheinander auftauchen und das färbt sozusagen auf die Sehrinde ab, bereitet sie vor, auf das, was wahrscheinlich kommen wird. Wahrnehmung hat also nicht nur etwas mit der Welt zu tun, sondern auch mit den Erwartungen des Gehirns. Entscheidend ist: die Erwartung ist der Realität zeitlich voraus. Die Nerven spielten die Sequenz etwa doppelt so schnell durch, wie sie in den vorigen Durchgängen tatsächlich abgelaufen war.
    "Wenn man sich das überlegt, dann macht das auch sehr viel Sinn. Weil wenn wir kontinuierlich Voraussagen machen über unsere Umgebung und diese Voraussagen genauso lange dauern wie die Realität, dann haben wir davon nichts. Also diese Vorhersagen müssen eigentlich schneller sein mal damit wir davon Gebrauch machen können."
    Der schnelle Vorlauf der neuronalen Erwartungen hilft
    Das zumindest sagt die Theorie voraus. Matthias Ekmann stellte seinen Versuchspersonen auch eine Aufgabe, sie mussten einen Knopf drücken, wenn sich der Punkt für seinen letzten Sprung mehr Zeit nahm. "Und hier haben wir gezeigt, dass wenn diese Aktivität in diesem visuellen Kortex schon schneller vorspielt, die Probanden hier auch schneller reagieren konnten. "
    Der schnelle Vorlauf der neuronalen Erwartungen hilft also tatsächlich auch in der Praxis. Durch diesen Trick kann das Gehirn und damit der Mensch auf der Autobahn oder dem Tennisplatz schnell reagieren, obwohl die Wahrnehmung doch eigentlich langsam ist. Das legt zumindest das Experiment mit dem hüpfenden Lichtpunkt nahe.
    "Das ist natürlich unglaublich vereinfacht, wenn man das mit unserer Realität vergleicht. Wenn Sie sich vorstellen, man spielt Tennis und der Ball kommt einem entgegen, dann kann man vielleicht seinen visuellen Kortex benutzen, um eben diese trajectory von dem Ball vorherzusehen. Nur gibt es hier eben unglaublich viele Möglichkeiten, wie der Ball sich auf einen zubewegen kann. Und dass dann die Frage, werden all diese Möglichkeiten repräsentiert oder nur eine, die besonders wahrscheinlich ist? Und das sind eben Fragen, die wir demnächst angehen möchten."