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Flaneure, Spieler und Touristen

Drei grundlegende Werke haben Zygmunt Bauman seit Beginn der neunziger Jahre auch hierzulande als gewichtige Größe unter den Philosophen der Postmoderne etabliert. In seiner Studie "Modernity and the Holocaust", deutsch: "Dialektik der Ordnung. Die Moderne und der Holocaust", im Original 1989, auf deutsch 1992 erschienen, hatte er die These vorgetragen, daß die Massenmorde der Nazis kein singulärer Menschlichkeits- und Vernunftsausfall, sondern im Gegenteil die konsequente, ja: "gesetzmäßige" Folge jenes überhöhten rationalistischen Weltbildes waren, das schon Adorno und Horkheimer in ihrer Dialektik der Aufklärung kritisch beleuchtet hatten.

Armin Huttenlocher | 01.01.1980
    Auschwitz, Hiroshima, der Gulag, diese Wunden des abendländischen Mythos: Keine zufälligen, kollektiven Krisen im Prozeß von Aufklärung und Zivilisation, vielmehr die konsequenten Endpunkte eines eskalierten Strebens nach Klarheit, Ordnung, Eindimensionalität - und eben instrumenteller Vernunft.

    Ein Fazit aus diesen - weithin als aufschreckend und provokativ empfundenen - Betrachtungen zog Bauman wenig später in "Modernity and Ambivalence", deutsch: "Moderne und Ambivalenz", um dann, 1993, unter dem Titel "Postmodern Ethics", deutsch: "Postmoderne Ethik" eine - aus seiner Sicht - definitive Analyse und Problematisierung gesellschaftlich-kultureller Folgeentwicklungen vorzulegen. Entgegen der Moderne, so Bauman, die die Mehrschichtigkeit allen Seins - und Zusammenseins - nicht wahrhaben wollte, basiere die Postmoderne existentiell auf Formen der Dualität, ja verkörpere gleichsam eine Welt der Oppositionen bis hin zum ästhetisierten, kokett zur Schau getragenen Widerspruch.

    Allerdings - befreit vom Dogma der einen und einzigen Wahrheit, beseelt von der Chance auf egal welchen Weg, finde die Postmoderne sich orientierungs- und haltlos wieder auf einem Feld der Unschärfe und der Grenzenlosigkeit. Das Skrupellose der Wissenschaft, die unkontrollierte Forcierung der Technologie, das Wiederaufleben fundamentalistischer Denkmuster - all das sei letztlich nichts anderes als der Ausdruck einer Gesellschaft ohne verbindliche Wertvorstellungen, ohne Verantwortungsbewußtsein, ohne Ziel, ohne Moral.

    Fürwahr - zwischen den Marktschreiern der Geistesschickeria und den Trend-Brokern der Philosopheme steht Zygmunt Bauman wie ein denkwürdiges Fossil. Man ist begeistert von seiner ruhigen Anamnese, von seiner Erkenntnisschärfe in manchem Detail, von seiner passagenweise aphoristischen Prägnanz. Doch mit dem Blick aufs Gesamte muß man sich fragen: Wo, mit Verlaub, lebt dieser Mann? Leise, beharrlich, scheinbar durch nichts zu beirren - schon gar nicht durch den Fortgang der Welt und die Verschiebung von Wirklichkeiten -, baut er an seinem Gedankengebäude, leuchtet er Kammer für Kammer aus. Immer stärker focussiert er, immer plastischere Bilder, vermeintlich lebensnähere Ausführungen ringt er sich ab. Dabei steigert sich seine Skepsis, entgleitet zum Fatalismus, und eine vordem eher verhaltene Mission wird von Buch zu Buch pathetischer und apodiktischer, vergaloppiert sich schließlich in moralischen Forderungen fernab realistischer politischer Wege, ist mal von erstaunlichem Anachronismus, dann wieder von rührender Naivität, mitunter von schlicht reaktionärer Diktion.

    Der auf deutsch erschienene Essayband "Flaneure, Spieler und Touristen", verschärft auf beängstigende Weise dieses bedenkliche Bild. Bauman geht aus von einer Gesellschaft, die in allen Bereichen und auf allen Ebenen in sich zerfallen ist: privat, öffentlich, politisch, wirtschaftlich, sozial, kulturell. Eine fragmentarisierte Welt. Ein Leben, das als Abfolge von Episoden gelebt werde, "frei von der Sorge um Konsequenzen", frei von dem Bestreben nach Utopie, Verantwortung und gesellschaftlicher Kreativität. Der Mensch, er hat sich vom Güterlieferanten in einen banalen Lustsammler verwandelt. Was bleibt, ist wenig mehr als ein Reflex auf den Markt und seine rasch wechselnden Moden.

    Bauman entwirft an dieser Stelle ein wunderbares Tableau, wohl das bedeutendste in diesem Buch. Die postmoderne Lebensstrategie zergliedere den "Pilger", der jahrhundertelang, bis hinein in die Moderne, mit festem Ziel vor Augen jede "wüstengleiche Welt" durchschritt, in vier Modelle, die eben nach Lust und Mode zur Verfügung stehen: Der Spaziergänger, der nurmehr theatralisch nachäfft, was der Pilger mit Ernsthaftigkeit tat, kein "Mann der Muße" mehr ist, sondern allenfalls ein "Meister der Simulation". Sodann: Der Vagabund, einst Fluch und Schrecken der seßhaften Ordnung, nun Segen und Zwang einer Welt, die Flexibilität zur Grundvoraussetzung jedes Überlebens macht. Drittens: Der Tourist, der seine Welt ausschließlich durch ästhetische Kriterien bestimmt, doch anders als der Vagabund sein Zuhause "als Teil des Sicherheitspaketes" hegt. Und schließlich, Der Spieler, für den es weder Unvermeidlichkeit noch Zufall, weder Gesetze noch Gesetzlosigkeit, weder Ordnung noch Chaos gibt.

    So birgt, laut Bauman, jede postmoderne Persönlichkeit "ein hübsches Quentchen Schizophrenie". Der Preis dafür ist hoch - für die Welt sowohl wie für Baumans Philosophie. Getreu seinem Gesetz von der Ambivalenz sieht er in dieser - für sich genommenen trefflichen Metapher - die Gefahr unserer Verdammnis ebenso wie den Schlüssel zur Errettung von Gesellschaft und Welt. Hat er zuvor noch einen weiten Bogen geschlagen von Augustinus über Nietzsche und Schopenhauer bis Cioran und Lévinas, kommt nun alles über einen Kamm und muß am Ende durch ein winzig’ Ör: Die Auflösung von, wie Bauman es nennt "einst unumstrittenen Hierarchien" in Ehe, Familie, Elternschaft, Nachbarschaft und am Arbeitsplatz; ebenso die, so wörtlich, "wachsende Schwierigkeit - ja, Verwirrung - elterliche Strenge und Kindesmißbrauch" gegeneinander abzugrenzen; auch die Gewaltdarstellung in den Medien und die "allherrschende Insensibilisierung". Schlußendlich, es verschlägt einem den Atem, das Nachdenken über Sterbehilfe und, wie Bauman es sieht, die "nahezu universale Unterstützung der Abtreibung". Doch Bauman gibt nicht nur die Analyse, er hält auch gleich die Lösung parat. Dieses ganze moralische Desaster, da ist sich die konstruktive Seele in seinem defätistischen Geiste sicher, sei in seinem tiefsten Inneren nur eine Frage von Toleranz und "von der Umwandlung dieser Toleranz in Solidarität". - Dann, ja, dann wird alles wieder gut. Wir müssen alle irgendwie echt lieb sein zueinander, du.

    Man hat Zygmunt Bauman den großen Tragiker der zeitgenössischen Philosophie genannt. Es war respektvoll gemeint.