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Kein Schlussstrich

Nach Auffassung des Bundestags-Vizepräsidenten Wolfgang Thierse zieht die Neufassung des Stasiunterlagen-Gesetzes keinen Schlussstrich unter die Aufarbeitung der DDR-Vergangenheit. Die Abschaffung der Regelanfrage habe kommen müssen, weil man die Einschränkung von Persönlichkeitsrechten im öffentlichen Dienst, vor allem in Ostdeutschland, beenden wollte.

Moderation: Rainer B.Schossig | 30.11.2006
    Rainer B. Schossig: Verschwindet die ehemalige DDR nach und nach unterm gnädigen Mantel der Geschichte? 17 Jahre nach der Wende wird von Verjährung und Historisierung geredet. Heute nun wurde im Bundestag eine Nachfolge-Version des Stasi-Unterlagengesetzes verabschiedet. Schon gestern hatte der Kulturausschuss des Bundestages den Entwurf durchgewinkt. Hauptneuerung ist die Abschaffung der sog. Regelanfrage bei Einstellungen. In den nächsten fünf Jahren sollen nur noch führende Mitarbeiter im öffentlichen Dienst weiter auf eine Stasi-Vergangenheit untersucht werden.

    Wolfgang Thierse: Ich glaube nicht, dass es ein Schlussstrich ist. Man muss ja wissen, dass der Teil der Arbeit getan ist, den wir 1991 wollten. Wir haben zwei Ziele verfolgt. Erstens: Die Akten der Unterdrücker, der Verfolger sollten den Opfern zugänglich gemacht werden. Und zweitens: Wir wollten erreichen, dass all diejenigen, die schon einmal Macht und Vertrauen missbraucht haben, dass sie nicht wieder in Machtpositionen kommen, in Vertrauenspositionen. Und deswegen haben wir gesagt, um die Eignung für den öffentlichen Dienst zu überprüfen, ermöglichen wir den Zugang zu den Stasi-Unterlagen. Man kann auch sagen, dieser Teil der Aufgabe, wie immer wir ihn nennen, ob Personalwechsel oder Elitenwechsel, ist im Wesentlichen erledigt. Verdacht qua ostdeutscher Herkunft, das ist endgültig überflüssig.

    Schossig: Die Rede ist jetzt von einer differenzierteren Fortentwicklung der Überprüfungsmöglichkeiten, womit ja auch angebliche verfassungsrechtliche Bedenken ausgeräumt werden sollten. Die bezogen sich auf eine Art doppeltes Verjährungsrecht, Herr Thierse, von daher ist es ja eigentlich einsichtig, dass jetzt nach 15 Jahren diese Novellierung her musste.

    Thierse: Die musste her, weil wir diese rechtsstaatliche Ausnahmesituation, nämlich Einschränkung von Persönlichkeitsrechten für den ganzen öffentlichen Dienst, vor allem natürlich in Ostdeutschland, beenden wollten. Und wir schränken diese Möglichkeit zu Akteneinsicht ein auf jene Positionen in der Gesellschaft in öffentlichen Ämtern, bei denen es um ein besonderes Vertrauensverhältnis der Bürger geht, also Regierungsmitglieder, Abgeordnete, Leiter von Behörden, politische Beamte, Richter, höhere Offiziere, Sportfunktionäre. Da geht es immer noch um ein besonderes Vertrauensverhältnis. Und da ist es, denke ich, sogar in beiderseitigem Interesse, dass Misstrauen abgebaut werden kann.

    Schossig: Ein Desiderat von Wissenschaftlern, auch von Journalisten und Gedenkstättenvertretern war es ja, diese Zugangsmöglichkeiten, die bisher zum Teil noch beschränkt wurden, weiter für Forschung und Medien zu öffnen. Hier sieht die Novelle deutliche Verbesserungen vor.

    Thierse: Wir erweitern den Forschungszweck, für den Unterlagen herausgegeben werden. Nicht mehr nur die Tätigkeit des Staatssicherheitsdienstes ist der Forschungszweck, sondern auch Herrschaftsmechanismen der DDR, also das politische System insgesamt. Wenn das erforscht wird, sollen auch Unterlagen zur Verfügung gestellt werden. Und zweitens, sehr wichtig, auch Akten, mit personenbezogenen Informationen sollen leichter zugänglich werden, auch Wissenschaftlern, die nicht in der Behörde arbeiten, sondern außerhalb. Bisher gab es ein Ungleichgewicht, eine Ungerechtigkeit zwischen behördeninterner und behördenexterner Forschung. Ich glaube, das ist beides sehr wichtig, und ich setze auch darauf, dass dieses dazu führt, dass wir in einem breiteren Sinne als bisher Aufarbeitung von Stasi und SED und politischer Geschichte betreiben können. Gerade weil wir keinen Schlussstrich ziehen wollen, sollen diese Akten für die wissenschaftliche und die politisch-moralische öffentliche Aufarbeitung besser als bisher zugänglich bleiben. Das ist sozusagen die doppelte Operation, die wir mit diesem Novellierungsgesetz vornehmen.

    Schossig: Herr Thierse, unser DDR-Bild setzt sich - und ich glaube auch noch einige Jahrzehnte länger in die Zukunft hinein - aus zwei Aspekten zusammen. Einmal ist da die historische Forschung natürlich, und da sind die zeitgeschichtlichen Recherchen, also literarische oder filmische, dann aber auch die privaten, die Selbstwahrnehmungen, die Erinnerungen an Glück oder eben auch an Enge des Staates, dieses verflossenen. Verdeckt nicht ein allzu Viel an Stasi einen Blick auf den Alltag der DDR?

    Thierse: Das war schon immer das Problem, von Anfang an. Wir hatten ja von Anfang der 90er Jahre eine gelegentlich geradezu marktschreierische Fixierung auf Stasi-Geschichten von Feigheit und Verrat, als hätte es in der DDR nicht noch anderes gegeben - Alltag, Anpassung, Widerstand, fröhliches, freches Überleben. Und ich finde ja auch, dass mehr als bisher die Stasi die Auftraggeber der Stasi, nämlich die SED, in den Mittelpunkt der Aufmerksamkeit rücken müssen. Dass Alltag und Widerstand, Zustimmung und Ablehnung, die internationalen Zusammenhänge, in denen das DDR-Regime gestanden hat, dass das alles mehr in den Mittelpunkt der Forschung, aber auch in der öffentlichen Betrachtung rücken muss.