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Mehr als nur ein Knochenstabilisator

Unter den Vitaminen ist das Vitamin D ein ganz besonderes: Die Haut produziert es in der Sonne, die im Winter nicht mehr allzu oft scheint. Lebensmittel gleichen diesen Mangel nicht aus. Da die Wissenschaft immer mehr Belege dafür findet, dass die Rolle von Vitamin D bei der Verhütung von Krankheiten unterschätzt wurde, fordern Experten nun, höhere tägliche Aufnahmemengen zu empfehlen.

Von Volker Mrasek | 27.10.2010
    Nicht viele forschen schon so lange auf einem Gebiet wie Anthony Norman, emeritierter Professor für Biomedizinische Wissenschaften an der Universität von Kalifornien in Riverside:

    " Seit fast 48 Jahren beschäftige er sich nun schon mit Vitamin D ",

    sagt der US-amerikanische Biochemiker. Die wahre Bedeutung der Substanz für die Gesundheit des Menschen kristallisierte sich aber erst spät heraus:

    "Vitamin D, das war immer nur die Geschichte von der Regulierung der Kalzium-Aufnahme in Knochen. In den letzten Jahren haben wir aber gelernt: Spezielle Rezeptoren, die auf Vitamin D reagieren, kommen noch in zahlreichen anderen Geweben unseres Körpers vor. Wichtig ist das Vitamin auch für ein intaktes Immunsystem, für die Produktion von Insulin, für ein gesundes Herz-Kreislauf-System und für eine kräftige Muskulatur."

    So wichtig Vitamin D für den Körper zu sein scheint, so schlecht ist die Bevölkerung damit versorgt. In Deutschland haben rund 60 Prozent aller Männer, Frauen und Jugendlichen Vitamin-D-Konzentrationen im Blutserum, die als zu gering gelten. Das ergaben Studien des Berliner Robert-Koch-Instituts. Wer wissen möchte, ob er zu dieser Mehrheit zählt, kann übrigens seinen Hausarzt aufsuchen: Eine Blutuntersuchung gibt Aufschluss darüber.

    Experten betrachten Vitamin D jedenfalls als kritischen Nährstoff in Ländern der mittleren und hohen Breiten. Der Mediziner und Biologe George Ebers, Professor für Klinische Neurologie an der Universität von Oxford in England:

    "Das meiste Vitamin D erhalten wir von der Sonne. Unsere Haut synthetisiert es während der warmen Jahreszeit aus Vorläufersubstanzen in unserem Körper. In den Wintermonaten aber ist die UV-Strahlung der Sonne in einer Region wie Deutschland zu schwach, um Vitamin D zu produzieren."

    Das ist auch der Grund, warum es Neugeborenen erst einmal an Vitamin D mangelt, wenn sie im Spätherbst oder Winter auf die Welt kommen. Zumal Lebensmittel nicht viel davon enthalten: Nennenswerte Mengen Vitamin D stecken lediglich in fettem Fisch.

    Anthony Norman und andere Wissenschaftler halten es für überfällig, etwas gegen die Mangelversorgung großer Teile der Bevölkerung zu tun. Sie fordern Ernährungsgesellschaften und Regierungen auf, höhere tägliche Aufnahmemengen für Vitamin D zu empfehlen. So wie Norman jetzt in einem Fachjournal für Experimentelle Biologie und Medizin:

    "In den USA, in Kanada und in Westeuropa sind die Empfehlungen offen gesagt ziemlich altbacken. Sie gründen immer noch auf der Annahme, Vitamin D sei nur wichtig für die Knochen. Wir denken, es ist an der Zeit, eine höhere tägliche Aufnahme des Vitamins anzuraten. 2000 Internationale Einheiten vielleicht. 200, 400 oder 800, wie sie heute empfohlen werden - das reicht noch nicht!"

    2000 Einheiten, das entspricht 50 Mikrogramm Vitamin D. Säuglingen und Senioren in Deutschland werden derzeit gerade mal zehn Mikrogramm pro Tag empfohlen, dem Rest der Bevölkerung sogar nur fünf. Bundesbürger müssten ihre Vitamin-D-Aufnahme also verzehnfachen, wollten sie dem Rat der Forscher folgen und nicht mehr nur den heute gültigen Referenzwerten für die Nährstoffzufuhr!

    Natürlich könne man Vitamine auch überdosieren, sagt George Ebers. 2000 Einheiten seien aber vorsichtig gewählt. Eine solche Tagesdosis könne man sofort und risikolos empfehlen:

    "Nach jetzigem Kenntnisstand wäre das sehr sicher. Wer sich dennoch Sorgen macht, sollte wissen, dass schwangere Frauen in Frankreich einmalig 80- bis 100.000 Einheiten erhalten, um ihr Vitamin-D-Depot aufzufüllen. Und dass unsere Haut bei einem halbstündigen Sonnenbad ohne Weiteres 10- oder 15.000 Einheiten produziert."

    Die Deutsche Gesellschaft für Ernährung teilte auf Anfrage mit, eine Expertengruppe befasse sich derzeit mit dem Thema. Sie werde die aktuellen Zufuhr-Empfehlungen noch einmal bewerten. Allerdings fehlten im Moment noch Langzeitstudien darüber, ob eine höhere Vitamin-D-Aufnahme tatsächlich unbedenklich sei.